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Bild von Kevin Snyman auf Pixabay

Wie sich Medikalisierung, Übertherapie und Pathologisierung auf das Klima und die Umwelt auswirken

  • ESTHER LUHMANN (Workshop)

  • MEZIS & VdPP Fachtagung 2024 „Medikalisierung, Übertherapie, Pathologisierung“

„Die Klima- und Umweltkrise ist die größte Bedrohung unserer Gesundheit!“

Mit dieser klaren Aussage begann die Referentin Esther Luhmann den Einstieg in den Workshop.

Anhand eindrücklicher Zahlen stellte sie dar, welche große Bedeutung die Klima- und Umweltkrise für den Gesundheitssektor hat – und umgekehrt – der Gesundheitssektor für die Klimakrise. Immerhin ist das Gesundheitswesen in Deutschland für mehr als 5% der Klimaemissionen verantwortlich. Das hob Esther Luhmann als paradox hervor. Das Gesundheitswesen ist doch eigentlich dazu da, kranke Menschen gesünder zu machen, und dennoch trägt es gleichzeitig zu viel für die Freisetzung von Emissionen bei, welche die Klimakrise weiter anheizen.

Dank der CO2-Klimabilanz des Universitätsklinikums Freiburg (berechnet mit dem CAFOGES-Tool, Carbon Footprinting im Gesundheitswesen) von 2019 konnte aufgezeigt werden, wo Emissionen im Krankenhaus entstehen. Die Grafik stellt dar, dass ein Großteil der Emissionen dem Bereich Scope 1 (direkte Emissionen) zuzuordnen ist. Im Bereich der indirekten Emissionen (Scope 3) sind die Emissionen ausgewiesen, die beispielsweise mit Arzneimitteln verbunden sind.

Esther Luhmann konnte gut vermitteln, dass ihr dieses arzneimittelbezogene Thema eine Herzensangelegenheit ist, für das sie auch das Interesse der Teilnehmenden gewinnen konnte, und das einen Großteil der Diskussion bestimmte.

Klimaschädliche Dosieraerosole

Berechnungen aus dem englischen Gesundheitssystem (NHS) haben gezeigt, dass Arzneimittel, Dosieraerosole und Narkosegase für 60% der Emissionen in der gesundheitlichen Primärversorgung verantwortlich sind. Das zeigt ihre enorme Bedeutung für das Klima und die notwendigen klimabezogenen Entscheidungen von Ärzt:innen und Apotheker:innen in ihrem beruflichen Kontext.

Dieses Beispiel der klimaschädlichen Dosieraerosole wurde mit den Anwesenden ausführlich besprochen. Grundsätzlich stehen zur Behandlung von Atemwegserkrankungen zwei inhalative Darreichungsformen zur Verfügung, die in der Klimabilanz einen erheblichen Unterschied machen: Pulverinhalatoren verursachen weniger Emissionen, Dosieraerosole enthalten dagegen klimaschädliche Gase, die bis zu 3.000 Mal klimaschädlicher sind als CO2!

In Deutschland liegt das Verschreibungsverhalten der Ärzt:innen bei ca. 50:50, während in anderen Ländern nur ca. 10 bis 20 Prozent der problematischen Dosieraerosole verschrieben werden. In der Diskussion wurde darauf eingegangen, welchen Handlungsspielraum die verschreibenden Ärzt:innen haben, und welche Rolle Apotheken spielen. Die dargestellten Daten zeigen, dass es diesen (klimabewussten!) Handlungsspielraum gibt: Wann immer es therapeutisch möglich ist, sollten Ärzt:innen die medizinisch gleichwerten Pulverinhalatoren verschreiben. Wichtig ist auch hier im Sinne der Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS), dass die Patient:innen mit der korrekten Anwendung gut vertraut gemacht werden. Apotheken können durch den Service der Pharmazeutischen Dienstleistungen dazu beitragen, die richtige Anwendung von Inhalativa zu erklären. Auch diese Möglichkeit sollte viel öfter genutzt werden.

Arzneimittel richtig entsorgen

Ein weiterer klimarelevanter Punkt ist die fachgerechte Arzneimittelentsorgung. Sie ist in Deutschland leider nicht einheitlich geregelt. Selbst einige Teilnehmende des Workshops waren sich nicht sicher, wie abgelaufene oder nicht mehr benötigte Medikamente richtig entsorgt werden können. Einig waren sich alle, dass sie niemals über die Toilette oder das Waschbecken entsorgt werden dürfen. Grundsätzlich stehen vier Entsorgungswege für abgelaufene und nicht mehr benötigte Arzneimittel zur Verfügung:

  1. Entsorgung über den Hausmüll
  2. Entsorgung über Schadstoffmobile
  3. Entsorgung über Recyclinghöfe
  4. Entsorgung über Apotheken – auf freiwilliger Basis

Das medizinische und pharmazeutische Personal, aber auch alle Patient:innen können sich auf der Internetseite https://arzneimittelentsorgung.de/home/ über die jeweiligen korrekten Entsorgungswege in ihrer Kommune informieren.

Handeln geht auf verschiedenen Ebenen

Man kann auf verschiedenen Ebenen aktiv werden:

Auf der Mikroebene geht es um die Handlungen der einzelnen Akteur:innen bzw. der Individuen, beispielsweise auf die Frage hin: Ist das Auto notwendig, und welche nachhaltigen Alternativen können genutzt werden?

Auf der Mesoebene geht es um Institutionen, die einen größeren Einfluss haben können. Hierzu zählen im medizinischen Kontext die Gesundheitseinrichtungen, etwa von der Apotheke über die Arztpraxis bis zum großen Krankenhaus. Hier ist Teamarbeit gefragt.

Auf der Makroebene schaut man sich die Handlungen der politischen Systeme an. Hier ist der Handlungsspielraum am größten, muss aber oft durch die Zivilgesellschaft angeregt beziehungsweise eingefordert werden.

Aufgrund der begrenzten Zeit konnten weitere Therapie- und Diagnostikformen mit deutlich klimarelevanten Belastungen nicht weiter besprochen werden. Diese sind nicht unerheblich, wenn man das Thema „Medikalisierung, Übertherapie und Pathologisierung“ aus nachhaltiger Sicht und umfassend ansehen will. Denn jede (überflüssige, nichtevidenzbasierte) Medikalisierung, Therapie, Diagnostik und Pathologisierung ist mit CO2-Emissionen und Umweltzerstörung verknüpft und muss in jedem Fall auf Vermeidbarkeit und Reduzierbarkeit kritisch geprüft werden. Anders geht Klimaschutz nicht. 

Fazit:

Grundsätzlich waren sich alle einig, dass es auf allen Ebenen im Gesundheitswesen mehr Informationen braucht – in verständlicher Sprache und frei zugänglich. Außerdem fehlt es an Fortbildungsveranstaltungen, die auch von den jeweiligen Berufs- und Standesvertretungen zu leisten sind.

Von der Gesundheitspolitik ist eine gestaltende klimabewusste Politik zu fordern, die die bereits eingetretenen klimabedingten Gesundheitsschäden berücksichtigt, und darüber hinaus die Grundlagen für ein möglichst klimaneutrales Gesundheitssystem schafft. Es geht um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die es zu erfüllen gilt.

Denn Klimaschutz ist Gesundheitsschutz!

Autorin

Esther Luhmann

Esther Luhmann ist Apothekerin und Autorin. Sie arbeitet in einer öffentlichen Apotheke und als Vorstandsreferentin für den Verein demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten (VdPP).