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Medikalisierung, Übertherapie und Pathologisierung – die Rolle der gemeinschaftlichen Selbsthilfe als Partnerin in der Gesundheitsversorgung

  • DAVID BRINKMANN (Workshop)
  • MEZIS & VdPP Fachtagung 2024 „Medikalisierung, Übertherapie, Pathologisierung“

Etwa 3,5 Millionen Menschen in Deutschland engagieren sich in schätzungsweise 70.000-100.000 Selbsthilfegruppen.[1] In diesen Gemeinschaften unterstützen sich Betroffene gegenseitig und teilen ihr Erfahrungswissen. Die Gruppenmitglieder sprechen über Therapiemöglichkeiten und Erfahrungen mit Medikamenten, Ärzt:innen, Kliniken usw. In Selbsthilfegruppen erfahren Menschen Zusammenhalt, überwinden Einsamkeit und schöpfen neuen Mut. In der Selbsthilfelandschaft in Deutschland gibt es außerdem Selbsthilfeorganisationen/-verbände und Selbsthilfekontaktstellen. Selbsthilfeorganisationen bieten neben dem Betroffenenaustausch in Gruppen auch Fachinformationen zu Erkrankungen aus Patient:innen-Perspektive und Vernetzungsmöglichkeiten. Vertreter:innen dieser Organisationen setzen sich gegenüber der Politik für die Interessen Betroffener ein, und bringen ihre Perspektive in die Gesundheitsversorgung ein. Selbsthilfekontaktstellen wiederum arbeiten themenübergreifend zum Prinzip gemeinschaftlicher Selbsthilfe. Sie unterstützen Selbsthilfeaktive bei ihrer Arbeit und sind wichtige Netzwerkpartnerinnen für Akteure des Gesundheitswesens, etwa wenn es um die Vermittlung in Selbsthilfeangebote geht. Die positiven Wirkungen der gemeinschaftlichen Selbsthilfe für Patient:innen auf individueller Ebene und ihr Mehrwert für die Gesundheitsversorgung als Ganzes sind bekannt. Sie kann die ärztliche und therapeutische Arbeit entlasten und Mitverantwortung sowie Compliance fördern. Die gesundheitliche Selbsthilfe gilt als glaubwürdige Partnerin für Behandelnde, Politik, Wissenschaft oder Gesundheitsunternehmen.[2]

Die Selbsthilfe als Absatzmarkt

Die Nähe zu Unternehmen bietet Selbsthilfeaktiven eine Partnerschaft mit einem mächtigen Player und einen bürokratiearmen Zugang zu Ressourcen, um die Reichweite ihrer Selbsthilfearbeit zu erhöhen.

Für Unternehmen eröffnet das „Partnering“ mit Selbsthilfegruppen und -organisationen (bzw. deren Schlüsselpersonen, Stichwort „Expertenpatient:innen“) aus dem eigenen Indikationsbereich Absatzmärkte. Über Selbsthilfegruppen können Gesundheitsentscheidungen von Patient:innen beeinflusst und Bedarfe an Therapien und Medikamenten künstlich erzeugt werden. Über die Nähe zu Vertreter:innen von Selbsthilfeorganisationen bietet sich die Chance, Einfluss auf Entscheidungsträger:innen aus Politik und Verwaltung zu nehmen. So können gesundheitspolitische Entscheidungen beispielsweise bei der Zulassung von Therapien oder Medikamenten gelenkt werden. Medikalisierung, Übertherapie und Pathologisierung können auf diese Weise über die Selbsthilfe begünstigt werden.

Vielfältige Kooperationsformen – verschiedene Einflussmöglichkeiten

Die möglichen Einflusssphären von Gesundheitsunternehmen sind so vielfältig wie die Kooperationsformen mit der Selbsthilfe. Es geht einerseits um direkte finanzielle Zuwendungen, vor allem als Sponsoring, Spende oder als Fördermitgliedschaft. Andererseits werben Unternehmen in Mitgliederzeitschriften von Selbsthilfeorganisationen[4], führen gemeinsam Awareness-Kampagnen durch[5], referieren wechselseitig auf Kongressen, haben Infostände auf Veranstaltungen[6] und vieles mehr.

Es wird deutlich, dass all diese hier – nur skizzierbaren – Berührungspunkte zwischen Patient:innenselbsthilfe und Gesundheitsunternehmen die Gefahr von Interessenkonflikten bergen.

Die Selbsthilfe ist aber nicht per se für die Industrie interessant und damit potenziell gefährdet. Entweder weil Organisationen oder Gruppen eine Zusammenarbeit mit der Industrie generell ablehnen. Oder aber, weil längst nicht alle Indikationsbereiche, mit denen die Selbsthilfe sich beschäftigt, gleichermaßen lukrativ sind: Auch bei dünner Datenlage (viele Zuwendungen sind nach wie vor intransparent) wird deutlich, dass vor allem umsatzstarke Bereiche wie unterschiedliche Krebserkrankungen, HIV/AIDS, Erkrankungen des Blutsystems, Multiple Sklerose, Diabetes, Haut- und Atemwegserkrankungen usw. im Fokus der Industrie stehen (s. Tabelle 1).

Tabelle 1 Vergleich der Arbeitsbereiche von Patient:innenorganisationen (PO) mit den höchsten Zuwendungen 2022 durch Pharmazeutische Unternehmen (berechnet auf Grundlage der freiwilligen Selbstangabe der Mitgliedsunternehmen des FSA e.V.) mit den 10 umsatzstärksten Indikationsgruppen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), abgeleitet aus dem Arzneiverordnungs-Report 2023.[3]

Die Selbsthilfe muss sich aktiv vor Einflussnahme schützen

Die Selbsthilfe muss sich gegen unlautere Einflussnahmeversuche Dritter wappnen, will sie glaubwürdige Partnerin auf Augenhöhe in der Gesundheitsversorgung bleiben, und nicht zum Vehikel für Interessen Dritter werden. Es droht der Verlust von Vertrauen und Glaubwürdigkeit.

Auch die Unternehmen müssen ihrer sozialen Mitverantwortung in diesem Zusammenhang gerecht werden, Transparenz herstellen und Formen der Unterstützung wählen, die weniger Abhängigkeiten schaffen (z. B. Bildung eines Selbsthilfefonds statt Förderung durch einzelne Unternehmen).

Es gilt aber: Sich allein auf den „Goodwill“ der Industrie zu verlassen, reicht nicht. Und: Nicht jede Kooperation mit der Industrie ist per se problematisch. Es braucht aber Aufklärung über die Gefahren, Transparenz über Kooperationen und verbindliche Spielregeln, die die Zusammenarbeit so gestalten, dass die Unabhängigkeit der Selbsthilfe gewahrt bleibt. Die Selbsthilfe hat in den vergangenen Jahrzehnten bereits wichtige Schritte getan:

  • Formulierung und Operationalisierung von Leitsätzen für eine transparente und selbstbestimmte Ausgestaltung von Kooperationen[7]
  • Bereitstellung von konkreten, praxistauglichen Informationen und Beratung zur Umsetzung transparenten und unabhängigen Arbeitens[8]
  • Awarenesskampagnen zur Sensibilisierung
  • Erarbeitung von Kriterien für eine transparente und unabhängige Selbsthilfearbeit und Schaffen von Anreizen (z. B. „NAKOS-Kennzeichnung für Transparenz und Unabhängigkeit“[9])
  • Berücksichtigung von Transparenz und Unabhängigkeit bei der Selbsthilfeförderung nach § 20h SGB V.

Trotz dieser Bemühungen bleiben u. a. folgende Aspekte von zentraler Bedeutung:

  • Schaffung und Schärfung des Bewusstseins für Einflussnahmeversuche und Interessenkonflikte
  • Schaffung guter einheitlicher Standards für Transparenz (Finanzierung, Kooperationspartnerschaften, innere Struktur usw.)
  • Aufklärung über Einflussnahmestrategien
  • Bedarfsgerechte, bürokratiearme und kontinuierliche Selbsthilfeförderung
  • Schaffung von Anreizen im Förderverfahren
  • Verbesserung der Datenlage zum Einfluss der Industrie; Identifikation von Problembereichen.
Eine unabhängige und selbstbestimmte Selbsthilfe ist im Interesse aller

Für viele Ärzt:innen ist die Selbsthilfe „Sparringspartnerin“ bei der Versorgung ihrer Patient:innen. Ein Schulterschluss zwischen Ärzt:innen und der Selbsthilfe gegen unnötige Therapien und für eine evidenzbasierte, ausschließlich am Wohl der Patient:innen orientierte Information und Behandlung kann Synergien freisetzen, die allen zugutekommt. Fachkreise und Selbsthilfe sollten gemeinsam eintreten für mehr Transparenz und Unabhängigkeit im Gesundheitswesen insgesamt.

Zu den gemeinsamen Wirkungsfeldern könnten u. a. gehören:

  • Formulieren gemeinsamer Appelle für mehr Transparenz und Unabhängigkeit von wirtschaftlichen Interessen in der Gesundheitsversorgung
  • Forderung nach konkreten Ansatzpunkten wie Transparenzregister mit verbindlichen und möglichst einheitlichen Standards für Transparenzinformationen
  • Information der Fachkreise über Kriterien für eine unabhängige Selbsthilfearbeit
  • Berücksichtigung der Themen Transparenz und Unabhängigkeit bei der Vermittlung in die Selbsthilfe (zum Beispiel anhand der NAKOS-Kennzeichnung)
  • Herausstellen der Bedeutung von Selbsthilfekontaktstellen als Partnerinnen bei der Vermittlung in und Informationsstellen für die Selbsthilfe

Zusammengefasst geht es darum, gemeinsam zu betonen, dass man das gleiche Ziel, nämlich die bestmögliche Unterstützung der Betroffenen verfolgt und allein in ihrem Interesse handelt. Ärztliches Handeln und Selbsthilfearbeit sollten sich auch hier ergänzen. So können sie auch in Hinblick auf das Kongressthema positiv wirken: Gemeinsam gegen Medikalisierung und Übertherapie!

Autor

David Brinkmann

 David Brinkmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter bei der Nationalen Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfe NAKOS mit den Fokusthemen Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und Transparenz in der Selbsthilfe.

Fußnoten