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Rubrik: Artikel aus MEZISreihen
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Die Krankheitserfinder: Wie wir zu Patienten gemacht werden
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JÖRG BLECH (Workshop zusammengefasst von Sabine Hensold)
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MEZIS & VdPP Fachtagung 2024 „Medikalisierung, Übertherapie, Pathologisierung“
Wechseljahre des Mannes? Zappelige Kinder? Gefährliches Cholesterin? Überhöhter Blutdruck? Pharmafirmen und Ärzteverbände definieren die Gesundheit neu: Natürliche Veränderungen im Leben, geringfügig vom Normalen abweichende Eigenschaften oder Verhaltensweisen werden systematisch als krankhaft umgedeutet. Für jede Krankheit gibt es eine Pille – und immer häufiger für jede neue Pille auch eine neue Krankheit.
Die Pharmaindustrie definiert seit einigen Jahren die Gesundheit des Menschen neu, sodass Gesundheit ein Zustand ist, den keiner mehr erreichen kann. Viele normale Prozesse des Lebens – Geburt, Alter, Sexualität, Nicht-Glücklichsein und Tod – sowie normale Verhaltensweisen werden systematisch als krankhaft dargestellt. Wie Jörg Blech ausführte, sponsern global operierende Konzerne die Erfindung ganzer Krankheiten und Behandlungsmethoden, und schaffen so ihren Produkten neue Märkte. Denn indem man zappelnde Kinder medikamentös ruhigstellt, Cholesterin zum Risikofaktor Nummer eins erklärt oder fragwürdige Vorsorgeuntersuchungen einführt, kann man viel Geld verdienen.
Mit diesem als „Disease Mongering“ bekannten Phänomen verdienen die Krankheitserfinder ihr Geld an gesunden Menschen, denen sie einreden, sie wären krank. Überflüssige Therapien verwandeln viele Gesunde dauerhaft in Patient:innen. Medizinische Fachgesellschaften, Patientenverbände und Pharmafirmen machen in Medienkampagnen die Öffentlichkeit auf Störungen aufmerksam, die angeblich gravierend sind und viel zu selten behandelt werden, so Jörg Blech.
Ein berühmtes Beispiel ist das „Sisi“-Syndrom.[1] Der Begriff tauchte 1998 zum ersten Mal in einer einseitigen Werbeanzeige des Unternehmens SmithKline Beecham (heute GlaxoSmithKline) auf. Die betroffenen Patient:innen waren dem Konzern zufolge depressiv und gegebenenfalls mit Psychopharmaka zu behandeln. Die angeblich Betroffenen überspielten ihre krankhafte Niedergeschlagenheit, indem sie sich als besonders aktiv und lebensbejahend gäben. Das Syndrom wurde nach der österreichischen Kaiserin Elisabeth („Sisi“) benannt, da sie den Patiententypus wie ein Urbild verkörpere. Das Schlagwort Sisi-Syndrom hatte die Medien erobert, und wurde von Psychiater:innen propagiert.
Der Psychiater Markus Burgmer und Kolleg:innen des Uniklinikums Münster entlarvten das Volksleiden Anfang der 2000er Jahre als Erfindung der Industrie. Ihre Auswertung der Fachliteratur hatte offenbart, dass das Krankheitsbild als „wissenschaftlich nicht begründet“ anzusehen ist. Laut Jörg Blech gehe die Medienpräsenz des Sisi-Syndroms – darunter ein lanciertes Sachbuch zum Thema – vielmehr auf Wedopress zurück, eine PR-Firma in Oberursel, die von dem Pillenhersteller beauftragt worden war. Wedopress selbst rühmte sich in der Folgezeit, für die Einführung einer „neuen“ Depression, ein „Trommelfeuer“ in den Medien ausgelöst zu haben. Das Fazit der PR-Agentur lautete: „Das Sisi-Syndrom ist etabliert als besondere Ausprägung der Depression, akzeptiert von Mediziner:innen und Patient:innen.“
Das Sisi-Syndrom gab dem Wissenschaftsjournalisten Jörg Blech den Ausschlag, sich mit dem „Disease Mongering“ eingehender zu beschäftigen. Das Ergebnis seiner Recherchen und Auswertungen hat er in seinem erfolgreichen Sachbuch „Die Krankheitserfinder“ niedergeschrieben.[2] Sein Buch löste eine bundesweite Debatte über das Ausufern der Medizin aus.
Jörg Blech nannte weitere Beispiele des „Disease Mongering“, etwa das „Käfig-Tiger“-Syndrom, die „Leisure Sickness“, das „Aging Male Syndrome“ und die „Menopause des Mannes“. Die Unternehmen Jenapharm und Dr. Kade / Besins (heute: Besins Healthcare Germany) haben Meinungsforschungsinstitute, PR-Unternehmen, Werbeagenturen, Medizinprofessor:innen und Journalist:innen in Gang gesetzt, um die Wechseljahre des Mannes, die angeblich Millionen von Männern im besten Alter heimsucht, als ernst zu nehmende und weit verbreitete Erkrankung bekannt zu machen. Auf Pressekonferenzen wurde „der schleichende Verlust“ der männlichen Hormonproduktion beklagt. Anlass für die Kampagne war die Marktreife zweier Hormonpräparate, die im Frühjahr 2003 in Deutschland auf den Markt kamen.
Ist eine erfundene Krankheit erst einmal im öffentlichen Bewusstsein angekommen, zahlen Patient:innen und Krankenkassen wie selbstverständlich für die entsprechenden Medikamente und Therapien. Während die ausufernden Kosten das Gesundheitssystem überfordern, laufen die Geschäfte der Pharmaindustrie glänzend. Für das Marketing gibt die reiche Branche mehr Geld aus als für die Forschung. Ein Drittel der Erlöse und ein Drittel des Personals setzt Big Pharma ein, um Arzneimittel auf dem Markt zu platzieren. Zug um Zug werden dabei Krankheiten aufgebauscht oder schlicht ausgedacht.
Jörg Blech führte weiter aus, dass der Handel mit Krankheiten fünf Spielarten kennt, wie sie der australische Kritiker Ray Moynihan [3] beschrieben hat:
- Normale Prozesse des Lebens werden als medizinisches Problem verkauft. Nachdem beispielsweise die Firma Merck & Co. ein Mittel gegen Haarausfall entdeckt hatte, startete die globale PR-Agentur Edelman eine Kampagne. Sie fütterte Journalist:innen mit Studien: Ein Drittel aller Männer habe mit Haarausfall zu kämpfen. Was man nicht erfuhr: Die Studie wurde von Merck & Co. gesponsert, und die medizinischen Expert:innen, die den Journalist:innen die Zitate diktierten, hatte Edelman aufgetan.
- Seltene Symptome werden als grassierende Krankheiten dargestellt. Nach Einführung der Potenzpille Viagra breitete sich die Impotenz erstaunlich aus. Viagra-Hersteller Pfizer verkündete, dass Erektionsstörungen eine ernst zu nehmende und häufige Gesundheitsstörung sei, und etwa 50 Prozent der Männer zwischen dem 40. und 70. Lebensjahr davon betroffen wären. Der Hamburger Urologe Hartmut Porst, einer der führenden Potenzforscher in der Welt, hielt diese pauschale Aussage für heillos übertrieben.
- Persönliche und soziale Probleme werden in medizinische Probleme umgemünzt. In der Nervenheilkunde gelingt die Umwandlung der Gesunden in Kranke besonders gut, zumal „es keinen Mangel an Theorien gibt, nach denen fast alle Menschen nicht gesund sind“, wie der Hamburger Arzt Klaus Dörner spottet.[4] Entsprechend rasant hat sich die Zahl der seelischen Leiden in den offiziellen „Klassifikationssystemen“ vermehrt.
- Risiken werden als Krankheit verkauft. Indem Normwerte für Messgrößen wie Cholesterin, Bluthochdruck und Knochendichte herabgesetzt werden, wächst der Kreis der Kranken.
- Leichte Symptome werden zu Vorboten schwerer Leiden aufgebauscht. Das Reizdarmsyndrom etwa geht mit einer Fülle von Symptomen einher, die jeder schon einmal gespürt hat, und die viele als normales Rumoren im Darm ansehen: Schmerzen und Blähungen. Die diffusen Beschwerden treten vor allem bei Frauen auf und wurden bisher den psychosomatischen Erkrankungen zugerechnet.
Nicht nur die Gesetze des Markts fördern die Ausweitung der Medizin. Sie vollzieht sich auch deshalb so rasch, weil der Heilkunde seit Jahrzehnten kein Durchbruch gelungen ist, so Jörg Blech. Wo aber Therapien beispielsweise gegen Krebs fehlschlagen, wo lukrative Pharma-Patente ablaufen, wo wütende Forschungsanstrengungen (jeden Tag erscheinen etwa 5500 medizinische Artikel) keine Durchbrüche bringen, da wenden sich Mediziner:innen und Pharma-Forscher:innen den Gesunden zu.
Auch wenn die Möglichkeiten der Medizin immer größer werden, sollte man ihr im Falle des Disease Mongering Einhalt gebieten und eine umfassende „Ent-Medikalisierung“ anstreben. Jörg Blech nennt fünf Maßnahmen zur Eindämmung des Syndroms der Krankheitserfinderei:
- Einberufung einer unabhängigen, von der öffentlichen Hand finanzierten Institution zur Überwachung und Kontrolle der absichtlichen Medikalisierung einer gesunden Bevölkerung. Diese sollte erfundene Leiden enttarnen, aus dem Leistungskatalog werfen, und allgemeinverständliche Berichte über Krankheitsbilder, Syndrome und Störungen veröffentlichen.
- Finanzierung von klinischen Studien aus einem unabhängigen Forschungspool, in den die Industrie einzahlt.
- Fortbildungen für Ärzt:innen, die unabhängig von der Industrie organisiert werden.
- Offenlegung sämtlicher finanzieller Verbindungen zwischen Pharmaunternehmen und Mediziner:innen. Eine Art „Codex of Conduct“ könnte auflisten und begründen, was an Verbindungen und Zuwendungen zwischen Industrie und Ärzt:innen erlaubt ist und was nicht.
- Die Grundlage des ärztlichen Handelns sollte stets die evidenzbasierte Medizin sein. Für jedes ärztliche Handeln sollte es schlüssige wissenschaftliche Beweise geben, dass die Maßnahmen überhaupt einen Nutzen bringen.
Autor

Jörg Blech
Jörg Blech ist Diplombiologe und Wissenschaftsredakteur (zunächst STERN, dann ZEIT, jetzt beim SPIEGEL). Er hat verschiedene Sachbücher vorgelegt.
Fußnoten
- (1) Burgmer M, Driesch G, Heuft G: Das „Sisi-Syndrom“ – eine neue Depression? Nervenarzt 74, 440-444 (2003).
https://doi.org/10.1007/s00115-003-1489-2 - (2) Blech J: Die Krankheitserfinder. Wie wir zu Patienten gemacht werden. S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2003, 6. Auflage Januar 2004, ISBN 3-10-004410-X
- (3) Moynihan, Peter C. Gøtzsche, Iona Heath, David Henry: Selling sickness: the pharmaceutical industry and disease mongering. In: BMJ. Band 324, Nr. 7342, 2002, S. 886–891, doi:10.1136/bmj.324.7342.886, PMID 11950740
- (4) Dörner, K: In der Fortschrittsfalle. In: Deutsches Ärzteblatt 38, S.A-2462,2002
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