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Rubrik: Artikel aus MEZISreihen
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Schlagwörter: Herrschaftsmethode, Medikalisierung, Pathologisierung, Professionalisierung, Übertherapie
Medikalisierung als Erkenntnis und/oder Herrschaftsmethode?
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RALF BICKEBÖLLER (Workshop)
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MEZIS & VdPP Fachtagung 2024 „Medikalisierung, Übertherapie, Pathologisierung“
Dank den Teilnehmerinnen und Teilnehmern am Workshop, dass sie sich rege, offen und konstruktiv eingebracht haben.
Der Prozess der Medikalisierung, also vormals nicht dem Zuständigkeitsbereich der Medizin unterworfene Lebensvollzüge in einen medizinischen Deutungs- und Verfügungszusammenhang zu stellen, kam nicht unvermittelt schicksalhaft über uns. Jeder wie auch immer geartete einzelne Lebensvollzug wird in seinen zeitlichen, örtlichen, individuellen und kollektiven Kontexten gedeutet. Viele Lebensphänomene, die wir heutzutage als Krankheit deuten, wurden zu einer anderen Zeit, in einem anderen Kontext nicht als medizinisches Problem interpretiert; und es sind immer viele andere Interpretationen möglich.
Einige Menschen erlauben den Deutenden, Lebenswelt-Phänomene und Erfahrungen als medizinische Entitäten zu definieren. Schrittweise werden sie für uns zu medizinischen Fakten. Spezifische Symptome Betroffener werden als Krankheitsphänomen gedeutet und wandeln sich zu einem medizinischen Problem. Nun werden medizinische Therapien möglich und Stigmatisierungen verschwinden. Medikalisierung ist in dieser Sicht eine Erkenntnismethode, die Lebensphänomene und -vollzüge auf der Grundlage medizinischen Wissens zu erklären sucht, um ggf. medizinische Praktiken zur Lösung medizinischer Probleme anbieten zu können. Aus etwas „Normalem“ wurde eine behandelnswerte Krankheit und letztlich ein behandlungsbedürftiger Mensch.
Der derzeit überwiegend geführte Diskurs zur Medikalisierung fokussiert auf die Definitionsmacht der modernen Biomedizin, die (nach der Foucault‘- schen Bio-Macht-Definition) die Disziplinierung des individuellen und des Gattungs-Körpers (der Bevölkerung) vorantreibt. Die hierzu genutzte Wissensform ist ein fehlgeleitetes Herrschaftswissen: Jede sich bietende konkrete Problematik stellt sie als grundsätzlich, möglicherweise mit Arzneimitteln, therapierbares Problem dar. Medikalisierung als Herrschaftsmethode versucht das gesamte alltägliche Leben in den Einflussbereich und unter die Kontrolle von medizinischen Fachleuten mit medizinisch institutionellen Zuständigkeiten zu bringen. Über-, Unter- und Fehlversorgung, Pathologisierung – z. B. als „Disease Mongering“ – … oder „Healthism“ sind die Folge.
In sechs Kleingruppen erarbeiteten sich die Workshop-Teilnehmer:innen sechs Texte und teilten ihre Lektüreerfahrungen.
In Von der Kolik von Hildegard von Bingen (1098 – 1179) wird die Herstellung einer Arznei aus allerlei Heilkräutern zur Behandlung eines von der Kolik geplagten Menschen beschrieben. Warum bestimmte Zutaten zu nutzen sind, erklärt Hildegard mit unrichtigen warmen und kalten Säften, die abnehmen, wenn das Arzneimittel nüchtern und beim Schlafengehen eingenommen wird. Ihre Heilkunde ist eingebunden in eine allumfassende Kosmologie. Die Anweisungen sind klar, nach Symptomen geordnet, und für Laien gut nachvollziehbar, ohne Anwendung von geheimem und okkultem Wissen oder magischen Praktiken.
Von der Wassersucht schrieb Theophrast von Hohenheim (1493 – 1541). Seine Heilkunde versucht die Zeichen der Natur zu ergründen, demnach steckt alle Kraft in den natürlichen Dingen. Nur ein eidlicher Arzt versteht nach langem Naturstudium und gewissenhafter Erprobung, eine wirksame Arznei zu erfinden. Hörensagen und blinde Erfahrenheit – wie bei Laien weit verbreitet – führen zu unwirksamen, gar zu gefährlichen Kräuteranwendungen. Heilkräuter erprobt der Arzt an sich selbst. Es ist das geheime und okkulte Wissen und Können, die erprobte Erfahrung und die Einordnung in die Gegebenheiten der allumfassenden Natur, die dem Arzt die Naturkräfte zu steuern erlauben. Zwar heilt die Natur, doch die Kräfte der Natur zu Heilzwecken zu nutzen, ist dem Arzt zuzurechnen.
Der Laie über Versuche mit der Waage ist von Nikolaus von Cues (1401 – 1464). In einem fiktiven Dialog sprechen ein Gelehrter und ein Laie darüber, nach Zahl, Gewicht und Maß den Geheimnissen der Dinge näherzukommen. Messend sollen Unterschiede der Eigenschaften von Urin- und Blutproben gesunder und kranker Menschen erkennbar werden, so wie zwischen Jungen und Alten. Ärzte profitieren in ihrer Arbeit von der Kenntnis messbarer Unterschiede, die sie mithilfe des Vergleichs mit Normwerten in Tabellen beurteilen. Verschiedene Pflanzenteile einzelner und verschiedener Kräuter zeigen Unterschiede ihrer jeweils messbaren Eigenschaften, so wie sich jedes einzelne Kraut vom anderen derselben Sorte je nach Standort unterscheidet. Durch den Vergleich der messbaren Eigenschaften von Kräutern mit den messbaren Eigenschaften des Harns oder Bluts von Patient:innen, ist die Dosierung der Arzneimittel im Einzelfall genauer festlegbar, weil besser begründbare Prognosen – über den Krankheitsverlauf in Abhängigkeit von Dosis-Wirkungsbeziehungen? – abgegeben werden können.
Wissen und Können der Ärzte ist nicht mehr geheim und okkult, sondern objektiv, weil messbar, und von jeder Person mit ausreichender Kenntnis vernünftig nachvollziehbar. Gesundheit und Krankheit sind zu objektiv messbaren Eigenschaften geworden, die nicht mehr nur in der subjektiven Erfahrung der Betroffenen, sondern eindeutig anhand von Zahlenvergleichen durch ärztliche Spezialisten einzuordnen sind.
In der Natur der Dinge gibt es nichts Zufälliges, sondern alles ist kraft der Notwendigkeit der göttlichen Natur bestimmt, auf gewisse Weise zu existieren und zu wirken schrieb Baruch de Spinoza (1632 – 1677). Spinoza benennt die schaffende Natur – Gott – als freie Ursache der geschaffenen Natur. Weil die geschaffene Natur aus der Vollkommenheit Gottes hervorgeht, verfolgt sie keinen Zweck, sondern geschieht aus Notwendigkeit. Nichts was ist hat einen immanenten Zweck. Für Spinoza sind alle Zweckursachen nur menschliche Einbildungen. Natur wird dem Menschen in dessen Einbildung ein Mittel zur Erlangung von für ihn nützlichen Zwecken. Dabei kann es für den Menschen keine frei wählbaren Zwecke geben, denn er ist selbst ein Teil der geschaffenen Natur und damit mit seiner Natur (Geist, Körper, Erkenntnisfähigkeit und rationalem Handeln) den ewigen Notwendigkeiten der Natur unterworfen. Eine freie Wahl gibt es nicht. Die Unterschiede im Urteil über einzusetzende Mittel für bestimmte Zwecke, z. B. Wiedererlangung der Gesundheit bei Krankheit, liegen in unterschiedlichen Naturen der individuellen Menschen, nämlich in ihren unterschiedlichen Einbildungen, jedoch nicht in der Natur der Dinge selbst.
C.-L. Dumas beschreibt in Lob des Henri Fouquet, 1807 in Montpellier erschienen, ausführlich die verschiedensten grenzenlos scheinenden Aufgaben von Ärzten mit gottgleichen Fähigkeiten in modernen Kliniken. Sie wachen über das Schicksal ihrer unmündigen Patient:innen, erraten ihre Bedürfnisse, ertragen ihre Launen, schonen ihren Charakter, befehlen ihren Willen. Sie machen sich zu Herren der Kranken und ihrer Beschwerden. Sie finden die Ursachen der Krankheiten, kennen ihre Formen und alle Komplikationen. Ihr klinischer Blick analysiert unmittelbar die Situation und gibt eine sichere Prognose über den Krankheitsverlauf, wann was wie nach seiner Einschätzung zu tun ist, wie die Energien der Natur je nach Bedarf gesteigert oder abgeschwächt werden. Er weiß die Vor- und Nachteile aller Behandlungsmethoden sicher einzuschätzen, und findet mit seinem Wissen und seiner Erfahrung diejenige heraus, die für den Einzelfall am effektivsten und effizientesten zum Erfolg führt. Der klinische Blick greift mit der Abwägung von Chancen und Risiken in die Zukunft vor. Er beobachtet nicht mehr nur, sondern berechnet und behandelt die Patientin, den Patienten gemäß seiner Kalkulation. Der Arzt allein herrscht über die Patient:innen, indem er deren Symptome und Krankheiten beherrscht.
In Kalkül der Gewissheitsgrade von Michel Foucault (1926 – 1984) wird ein Text von C.-A. Brulley aus dem Jahr 1801 behandelt. Die Fallvorstellung berichtet von einem Patienten, der sich seinen Harnblasenstein entfernen lassen wollte. Der konsultierte Arzt benannte zwei positive Wahrscheinlichkeiten, die er mit einer gut kompensierten Blasenfunktion bei einem nur kleinen Konkrement als gegeben sah. Dem standen vier negative Wahrscheinlichkeiten gegenüber: das Alter, das Geschlecht, das Temperament und die begleitende Hauterkrankung des Patienten. Die Kalkulation der positiven und negativen Gewissheitsgrade – Wahrscheinlichkeiten – kam zum Ergebnis -2, was klar gegen die Operation sprach. Diese Berechnung wollte (!) der Patient jedoch nicht verstehen: Der Patient überlebte die Operation nicht. Was ehedem als Zufall oder Ungewissheit komplexer Situationen und Gegenstände verstanden wurde, ist nun analysierbar. Ereignisketten lassen sich in all ihre Einzelereignisse isolieren, denen genau berechenbare Ereigniseintrittswahrscheinlichkeiten zugeordnet werden können. Ihre Synthese bildet eine Reihe von einzelnen Gewissheitsgraden aus, die zur Beherrschung von Ungewissheiten nutzbar ist. Wahrscheinlichkeitsschlussfolgerungen benötigen allerdings eine genügend große Zahl an Fällen. Die Grundlage medizinischen Wissens ist daher nicht mehr die Individualität der jeweiligen Patient:in, sondern verschiedenste individuell erhobene medizinische Fakten, kombiniert mit den an großen Fallzahlen erhobenen Erkenntnissen über Ereigniseintrittswahrscheinlichkeiten. Aus der Erkrankung eines Individuums ist eine an Einzelindividuen identifizierbare Krankheit geworden. Dementsprechend ist nicht mehr die einzelne Ärzt:in die für einen spezifischen Kranken normative Beobachter:in, sondern die Gesamtheit aller Ärzt:innen, deren unterschiedliche Perspektiven und Trugschlüsse sich in der Gesamtheit aufheben – so die mathematische Theorie. Da alle Lebensphänomene und Lebensvollzüge zu medizinischen Fakten gemacht werden können, fallen alle Lebensbereiche zumindest in die statistische Beobachtung durch die Medizin, um ggf. ordnend und disziplinierend mit der Autorität medizinischer Institutionen eingreifen zu können: „Health in All Policies“? „… die Politik ist nichts weiter als Medizin im Großen“?
Der ärztliche Berufsstand hat im Laufe der Herausbildung der eigenen Professionalität einen zunehmenden Einfluss auf die Regulierung und Kontrolle individuellen Verhaltens ausgeübt. Mit der Professionalisierung anderer Heilberufe erfährt der Prozess der Medikalisierung einen weiteren Schub, wird doch der medizinische Erklärungsrahmen auf viele andere Wissenskulturen und soziale Praktiken erweitert und z. B. durch eHealth vollständig entgrenzt. Einerseits bietet der Prozess der Medikalisierung die Chance, tatsächliche Probleme zu identifizieren, sie zu bearbeiten und sie von moralischen Stigmatisierungen zu befreien – Medikalisierung als Erkenntnismethode. Andererseits öffnen die modernen Möglichkeiten der wissenschaftlichen Gesundheitsforschung die schützenden Türen zu personaler Identität – z. B. in den Lebenswelten – und geben diese zur Kontrolle, Überwachung, Steuerung und Manipulation frei – Medikalisierung als Herrschaftsmethode. Es gilt, auf dem schmalen Grat zwischen Erkenntnisgewinn und Missbrauch derselben die Balance zu halten.

Grafik (Fazit):©alkov – stock.adobe.com
Autor

Ralf Bickeböller
Ralf Bickeböller ist Arzt i. R. und Sozialethiker. Er ist MEZIS-Beiratsmitglied.
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