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Zu viel, zu teuer und zu wenig Nutzen

  • JÖRG SCHAABER (Vortrag)

  • MEZIS & VdPP Fachtagung 2024 „Medikalisierung, Übertherapie, Pathologisierung“

Was läuft auf dem Pharmamarkt eigentlich schief? Die meisten neuen Arzneimittel bringen Patient:innen keine oder nur marginale Vorteile, trotzdem sind Neueinführungen meist sehr kostspielig. Kurz gesagt bestimmen primär Gewinnerwartungen, welche Medikamente auf den Markt kommen. Produkte gegen Krankheiten, von denen hauptsächlich Menschen betroffen sind, die in ärmeren Ländern leben, haben wenig Chancen.

Aber auch Forschung mit älteren Wirkstoffen bleibt auf der Strecke. Dazu ein Beispiel: Imatinib und andere Tyrosinkinase-Hemmer (TKI) haben die Behandlungsmöglichkeiten bei chronischer myeloischer Leukämie (CML) deutlich verbessert. Doch die Behandlung ist teuer und hat Nebenwirkungen. Es wurde lange nicht untersucht, ob Patient:innen, bei denen die Behandlung gut anschlägt, das Medikament absetzen können. Der Hersteller hatte kein Interesse der Frage nachzugehen, und erst eine Studie des staatlichen US National Cancer Institute brachte Klarheit: Häufig kommt die Krankheit nach dem Absetzen nicht zurück, das erspart Nebenwirkungen und jede Menge Geld. Die möglichen Einsparungen in den USA werden auf 54 Mrd. US$ (2022-2052) geschätzt.[1]

Schieflage bei den erforschten Indikationen

Wenn man anschaut, wo viel geforscht wird, sticht Krebs heraus. Rund ein Drittel aller klinischen Studien widmet sich onkologischen Erkrankungen.[2] Das lohnt sich bei Jahrestherapiekosten, die oft über 100.000 € liegen, eigentlich immer. Das jährliche weltweite Umsatzwachstum in diesem Therapiegebiet wird auf 10-15% geschätzt.[3] In Deutschland haben sich die Ausgaben für Onkologika von 2013 bis 2020 verdoppelt, und machen inzwischen 20,4% der Arzneimittelausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) aus.[4]

Abb. 1: Klinische Studien zu welchen Erkrankungen? [2]

Dass die neuen Medikamente oft nicht halten was sie versprechen, zeigt eine Analyse aus den USA. Zwei Drittel der Neuzulassungen von Krebsmedikamenten (2008-2012) basierten auf Surrogaten, also wurde z. B. nur das Tumorwachstum gemessen, statt das Überleben. Das ist ein unzuverlässiger Indikator, denn nach im Mittel 4,4 Jahren später zeigte sich nur bei 14% der ohne ausreichende Evidenz zugelassenen Krebsmedikamente ein Überlebensvorteil, bei der Hälfte erfüllte sich die Hoffnung dagegen nicht, und bei dem Rest war es immer noch unklar.[5]

  • Krebs mit Abstand die größte Gruppe
  • Jahrestherapiekosten oft über 100.000 €
  • Nicht alle nützlich

Diese schwache Datenlage spiegelt sich auch in der Nutzenbewertung in Deutschland wider. Betrachtet man alle Bewertungen (außer Orphan Drugs) differenziert nach Patient:innengruppen, fand sich nur bei 30% ein Vorteil, der oftmals aber nur gering war.[6] Dabei sind die Bewertungen des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) aufgrund der oft schwachen Datenlage mitunter auch zu optimistisch. Olaratumab gegen Weichgewebesarkom wurde 2016 auf Basis einer Phase 2-Studie sehr früh zugelassen. Ein Experte bezeichnete das Medikament damals als „absolut sensationell“. Der G-BA sprach einen erheblichen Zusatznutzen zu. Eine weitere Studie zeigte, dass Olaratumab wirkungslos ist und nur Nebenwirkungen verursacht, im Juli 2019 wurde es verboten.[7]

Abb. 2: Nutzenbewertung in Deutschland ohne Orphans; Zusatznutzen nach Patientinnen- und Patientengruppen [6]

Ein Markt für Zitronen

Warum aber werden Medikamente mit schwachen oder mit fehlendem (Zusatz-) Nutzen trotzdem verschrieben? Schlechte Produkte finden Absatz, wenn Käufer:innen aufgrund fehlender Informationen Mängel vorab nicht erkennen können. Der Wirtschaftsnobelpreisträger George Akerlof prägte dafür den Begriff „Markt für Zitronen“. Als Zitronen bezeichnet man in den USA Gebrauchtwagen, die zwar schön aussehen, sich aber anschließend als Schrott herausstellen. Donald Light und Joel Lexchin wendeten diese Theorie auf Arzneimittel an und identifizierten folgende Voraussetzungen für den Erfolg von wenig tauglichen Mitteln:

  • Ein neues Medikament muss nur besser als ein Placebo sein.
  • Verbesserungen von Laborwerten, die für die Gesundheit von Patient:innen nicht unbedingt relevant sind, reichen für die Zulassung aus.
  • Außerdem werden später erkannte Risiken oft lange erfolgreich vertuscht. Wissenschaftler:innen, die auf der Gehaltsliste von Pharma stehen, schreiben bei Behandlungsleitlinien mit und leiten verkaufsfördernde Fortbildungen.
  • Und nicht zuletzt spielt das Marketing eine wichtige Rolle.

Das Geschäftsprinzip lohnt sich: 21 Firmen waren 2020 mit 24,46 Mrd. € über die Hälfte der Arzneimittelausgaben der GKV verantwortlich. Sie erzielten einen durchschnittlichen Gewinn von 25,7% im Jahr 2020. Etliche ihrer Kassenschlager haben keinen nennenswerten Zusatznutzen.[8]

Wer erfindet Medikamente eigentlich?

Oft werden die Forschungskosten als Rechtfertigung für hohe Preise angeführt. Abgesehen davon, dass die Branche trotzdem satte Gewinne einfährt, ist die Erzählung, die Pharmaindustrie treibe den medizinischen Fortschritt voran, nur bedingt richtig. Wissenschaftler:innen nahmen alle neuen Medikamente in den USA, die 2010-2016 zugelassen wurden, unter die Lupe. Keines der 210 neuen Medikamente kam ohne Förderung der staatlichen National Institutes of Health (NIH) der USA aus. Am extremsten sieht man das bei der Grundlagenforschung: 90% der Untersuchungen zu Wirkzielen (drug targets) wurden durch den Staat finanziert, insgesamt stecken in den 210 Medikamenten über 100 Milliarden US$ NIH-Gelder.[9]

Zugang zu Medikamenten nicht für alle

Ein Kernproblem der Arzneimittelversorgung brachte der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz auf den Punkt: „In der langen Geschichte der Pharmakonzerne ist ihr wichtigstes Anliegen, die Gewinne zu maximieren. Das ist ihr Geschäftsmodell. Um Gewinne zu maximieren, muss man das Angebot verknappen.“[10] Das führt nicht nur bei uns zu hohen Preisen. Ein Drittel der Weltbevölkerung, und sogar die Hälfte der Bevölkerung in Ländern mit geringem Einkommen, haben keinen Zugang zu unentbehrlichen Arzneimitteln.[11]

Die Schieflage wird an den Umsatzzahlen deutlich. Der Weltpharmamarkt war 2020 1.265 Mrd. US$ schwer, darauf entfielen auf Länder mit hohem Einkommen (16% der Weltbevölkerung) 959,5 Mrd. US$. In den schnell wachsenden Wirtschaften (Pharmerging Countries) waren es 290,8 Mrd. US$, in Ländern mit niedrigem Einkommen magere 15,0 Mrd. US$, obwohl in ihnen 17,6% der Weltbevölkerung leben.[12]

Ansatzpunkte für rationale und bezahlbare Medikamente

Doch wie kann die Situation verbessert werden? Dazu gibt es eine Reihe von Ansatzpunkten (ohne Anspruch auf Vollständigkeit). Offensichtlich ist es notwendig, die Hürden für die Zulassung erhöhen, also keine vorzeitige Zulassung auf Basis von Surrogaten. Weiter gehen würde eine Medical Need Clause nach norwegischem Vorbild, die nur bessere Medikamente erlaubte. Sie wurde nach Beitritt des Landes zum Europäischen Wirtschaftsraum, im Umkehrschluss, wegen angeblicher Wettbewerbsverzerrung abgeschafft.

Solange es diese nicht gibt, ist eine gute Nutzenbewertung sehr wichtig, die die Vor- und Nachteile verschiedener Wirkstoffe vergleicht. Niedrigere Preise können Fehlanreize für die Forschung vermeiden.

All das ist nur sinnvoll möglich, wenn vollständige Transparenz bei Studien und Forschungskosten hergestellt wird.

Unabhängige Fortbildungen für Fachpersonal und gute Informationen auch für Erkrankte fördern den rationalen Gebrauch von Arzneimitteln. Auch eine bessere Werbekontrolle sowie Werbeverbote können einen wichtigen Beitrag leisten.

Um therapeutische Lücken zu schließen, ist mehr öffentliche Forschung bis zur Zulassung notwendig. Die Förderung muss an klare Bedingungen für den späteren Zugang zu den entwickelten Therapien gekoppelt werden.

Autor

Jörg Schaaber

Jörg Schaaber ist Soziologe und Gesundheitswissenschaftler (MPH). Er arbeitet für die BUKO Pharma-Kampagne, u. a. als Chefredakteur (Pharma-Brief, „Gute Pillen – Schlechte Pillen“) und als Buchautor. Er ist Mitbegründer und Mitglied bei Health Action International (HAI) und Patientenvertreter im Gemeinsamen Bundesausschuss.

Fußnote