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Rubrik: Artikel aus MEZISreihen
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Schlagwörter: DMP, Incentives, Korruption, Medikalisierung, Pathologisierung, Übertherapie, Untertherapie
Was korrumpiert uns?
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GÜNTHER EGIDI (Keynote)
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MEZIS & VdPP Fachtagung 2024 „Medikalisierung, Übertherapie, Pathologisierung“
Heute beschäftigen wir uns mal nicht mit den Lord Voldemorts des Gesundheitswesens, den sogenannten PIPPOs, um das wunderschöne, von Norbert Donner-Banzhoff auf dem EbM-Kongress vorgestellte Akronym zu zitieren, welches bedeutet: Pathophysiologisch orientiert, Industrienah, Panik verbreitend, Pseudolösungen vorschlagend, Ohne Grenzen.
PIPPOs, wie dem „Diener zweier (oder besser gesagt: fast aller!) Herren“, den für seinen Ausspruch bekannten Essener Neurologen Hans-Christoph Diener, der sagte, er habe keinen Interessenkonflikt, weil er von so vielen verschiedenen Firmen Zuwendungen erhalten habe.
Oder dem Leipziger Kardiologen Ulrich Laufs, der wegen Verstoßes gegen die Compliance-Regeln zur Angabe von Interessenkonflikten aus der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AKdÄ) geflogen war.
Und wir beschäftigen uns auch nicht mit Fachgesellschaften wie der European Society of Corruption (Pardon: Cardiology!), die durch ihre völlig maßlosen Empfehlungen zur Lipidsenkung auf sich aufmerksam macht, oder deren Leitlinien-Erstautor Frank Visseren, der sich in mehreren persönlichen Schreiben wie folgt äußerte: „The ESC guidelines are consensus guidelines. There are no systematic literature searches done.“ – mit anderen Worten: Die haben sich ihre Empfehlungen alle nur ausgedacht!
Nein, heute geht es mal um uns selbst, am Beispiel des hier sprechenden, respektive schreibenden Hausarztes Günther Egidi.
Aus dem „Disease Management Programm Diabetes“ liegen uns große ausgewertete Datensätze vor – allein aus Nordrhein zu fast 600.000 Menschen mit Diabetes [1]:
Tabelle: Disease-Management-Programme Nordrhein, QUALITÄTS-BERICHT 2022 [1]

Darin sehen wir:
Über ein Drittel der ins DMP Diabetes eingeschriebenen Patient:innen hat entweder gar keinen Diabetes – oder die Menschen bekommen zu Unrecht den Blutzucker senkende Medikamente!
Für jede DMP-Dokumentation bekommt die Hausarztpraxis 20 €. In der Praxis, in der ich selber hausärztlich tätig bin, werden in jedem Quartal, bei ca. 200.000 € Gesamtumsatz, allein für die DMPs 11.000 € vergütet.
Dabei kann bereits die Mitteilung einer Diabetes Diagnose gravierende Folgen haben: In einer Beobachtungsstudie [2] gaben Patient:innen mit der Diagnose Diabetes an, wegen ihrer Diagnose unter Scham, Schuldgefühlen, Beobachtung durch Andere und Diskriminierung zu leiden.
Es besteht also ein potenzieller Interessenkonflikt zwischen dem Interesse der Ärzt:innen, Einkommen zu generieren, und dem der Patient:innen, gesund leben zu können.
Dabei ist die hausärztliche Fachgesellschaft DEGAM sehr stolz darauf, eine Leitlinie zum Schutz vor Über- und Unterversorgung [3] erarbeitet zu haben, die laufend aktualisiert wird. Anders als GOBSAT-Leitlinien, wie die der ESC (Good old boys sitting around a table) liegt der DEGAM-Leitlinie eine systematische Aufarbeitung der Evidenz zu Grunde.
Wesentliche Empfehlungen:
- Männer, die nicht aktiv danach fragen, sollen nicht auf einen PSA-Test angesprochen werden.
- Empfehlen Sie eine Koronarangiographie nur, wenn ein diagnostischer oder therapeutischer Nutzen zu erwarten ist.
- Verständlich machen, dass bei Halsschmerzen meist ein Virus die Ursache ist und Antibiotika nicht helfen.
- Unkomplizierte akute Bronchitis nicht mit Antibiotika behandeln.
- Bei Müdigkeit nach Angst und Depression suchen. Weitergehende Labor- oder apparative Untersuchungen nur bei auffälligen Befunden.
- Vor Behandlungsbeginn mit Antidementiva darauf hinweisen, dass sie bei Verschlechterung wieder abgesetzt werden müssen.
- Die Evidenz für den Nutzen eines Hautkrebs-Screenings ist ungenügend.
- Opiate bei Kreuzschmerzen beenden, wenn nicht genügend wirksam.
Über- und Unterversorgung liegen oft eng beieinander. Hier ein Beispiel für eine Über- und Fehlversorgung:
- In den 1990er-Jahren wurden massenhaft akademische Frauen im mittleren Alter mit „schlechter Knochendichte“ verunsichert.
- Die darauf folgende Herausnahme der Knochendichtemessung (DXA) aus dem Leistungskatalog der GKV, wenn nicht schon Fraktur eingetreten war, bedeutete für viele ältere Frauen eine Unterversorgung – man wollte doch gerade eine Fraktur verhindern.
- Der G-BA-Beschluss 2014, die DXA zur Kassenleistung bei erhöhtem Basisrisiko und prinzipieller Therapiebereitschaft zu machen, korrigierte dies, und führte prinzipiell zu einer angemessenen Versorgung.
- Sehr viele (wenn nicht die meisten) orthopädische Praxen bieten Knochendichtemessungen an, beantragen aber nicht die Abrechnungsbefugnis dafür, um Messungen teurer als IGe-Leistungen abzurechnen – erneut resultiert eine Unterversorgung.
Im hausärztlichen Alltag drohen aber dennoch an diversen Stellen die persönlichen ärztlichen Interessen mit denen der Patient:innen zu kollidieren:
- Zwar ist die Evidenz für den Nutzen eines Hautkrebs-Screening unzureichend – aber für jedes durchgeführte Screening gibt es ein extrabudgetäres Honorar von 29,94 €.
- Obwohl auch für das generelle Screening aller über 35-Jährigen auf Hepatitis B und C die Nutzenbelege fehlen, werden viele Hausärzt:innen die 4,89 € im Rahmen der Gesundheitsuntersuchung mitnehmen wollen.
- Man sagt: „10 Ultraschall durchführende Ärzt:innen ernähren ein MRT“. Eine Ultraschall-Untersuchung bringt der Praxis 17,07 € im Budget. Wird die Indikation dafür immer sachgerecht gestellt?
- In den Zulassungsstudien für die damals neuen oralen Antikoagulanzien (NOAK) konnte eine Überlegenheit gegenüber Warfarin nur nachgewiesen werden, wenn die Patient:innen in der Kontrollgruppe eine schlechte Einstellung ihrer Gerinnungswerte hatten. Deutsche Versorgungsdaten [4] zeigen: Unter NOAK ist das Schlaganfall-Risiko um fast ein Drittel höher als unter Phenprocoumon (z. B. Marcumar®). Dennoch beträgt der Verordnungsanteil der NOAK inzwischen über 83% (Umsatzvolumen fast 2,5 Mrd. €, im Vergleich zu knapp 32 Mio. € für Phenprocoumon). [5]
» Sollte dies daran liegen, dass die erforderlichen Gerinnungsuntersuchungen für die Praxen zusätzliche Arbeit und damit Kosten bedeuten?
» Und: Bedeuten umgekehrt „Belohnungs-Abrechnungsziffern“, die die Krankenkassen den Praxen bezahlen, die weiter Phenprocoumon aufschreiben, bereits Korruption? - Für eine psychosomatische Intervention bekommen die hausärztlichen Praxen pro Sitzung 15,28 € außerhalb des Budgets. Eine solche Intervention aber setzt voraus, dass eine „Psycho- (F-)Diagnose“ kodiert wird – für die Betroffenen ein möglicher Schaden, wenn sie z. B. deshalb keine Lebensversicherung mehr abschließen können.
- Seit im Jahr 2001 der Verlegersohn Felix Burda an einem Darmkrebs gestorben, und ein Jahr später in Deutschland die Screening- Darmspiegelung eingeführt worden war, wird diese Untersuchung massiv beworben. Wenn von solcher Werbung verunsicherte Menschen in die Arztpraxen kommen, ist es zeitsparend, schnell einfach eine Überweisung zur Darmspiegelung auszustellen, statt sich mühsam – und oft unbezahlt – mit den Patient:innen hinzusetzen, und in aller Ruhe gemeinsam Vor- und Nachteile der Untersuchung herauszuarbeiten. Ähnliches gilt für die aktuell aggressiv von der Firma Glaxo Smith & Cline beworbene Impfung gegen Gürtelrose.
Nicht nur Zahlungen oder geldwerte Vergünstigungen von pharmazeutischen Firmen korrumpieren uns, sondern auch in der (haus-) ärztlichen Vergütung abgebildete Incentives, falsche Einstellungen, ungenügendes Wissen und einfach Bequemlichkeit können dazu führen, dass wir eine schlechtere Behandlung durchführen, als eigentlich angemessen wäre.
Autor

Günther Egidi
Günther Egidi ist Arzt i. R. (nach 15 Jahren Klinik- und 25 Jahren hausärztliche Tätigkeit in Bremen). Er ist in der Leitlinienarbeit aktiv (kardiovaskuläre Prävention, Diabetes, Schutz vor Über- und Unterversorgung u.v.m.), in der hausärztlichen Fortbildung tätig und seit vielen Jahren MEZIS-Mitglied.