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Überversorgung und Unterversorgung mindern

  • DAVID KLEMPERER (Vortrag)

  • MEZIS & VdPP Fachtagung 2024 „Medikalisierung, Übertherapie, Pathologisierung“
Vorbemerkung

Ich habe eine Reihe von Veröffentlichungen zum Thema Überversorgung und Unterversorgung verfasst oder war daran beteiligt. Um mich nicht zu wiederholen, finden Sie im Folgenden die Kurzversion meines Vortrags bei der MEZIS / VdPP-Fachtagung „Wie krank ist das denn?“ Medikalisierung, Übertherapie, Pathologisierung, Hannover 13.4.2024.
Ausführlichere Darstellungen finden Sie auf meiner Website www.davidklemperer.de, z. B.:
Klemperer D. Über- und Unterversorgung im deutschen Gesundheitswesen. Dr. med. Mabuse. 2019;(241):28-30.
Schaefer C, Klemperer D. Mit Leitlinien, Shared Decision Making und Choosing Wisely gegen Über-, Unter- und Fehlversorgung? GGW. 2020; 20,2:23-30.

Patient:innenwohl

Im Mittelpunkt der „richtigen“ medizinischen Versorgung unserer Patient:innen steht deren Wohlergehen. Das dazugehörige Konzept Patient:innenwohl hat der Deutsche Ethikrat entwickelt.[1] Zu den wesentlichen Elementen einer Behandlungsentscheidung zählt der Ethikrat die Objektivierbarkeit, also das auf Grund des medizinischen Wissensstandes zu erwartende Verhältnis von Nutzen und Schäden der zur Diskussion stehenden Behandlung. Dem folgt die Information des Patienten bzw. der Patientin und die Klärung seiner bzw. ihrer subjektiven Präferenzen.

Über- und Unterversorgung

Stenting bei stabiler koronarer Herzkrankheit ist ein klassisches Beispiel für Überversorgung. Anders als Patient:innen zumeist denken, wird die Prognose nicht verbessert. Der Nutzen besteht in der Minderung von Beschwerden. Eine Verbesserung der Prognose bei stabiler KHK ist für die „optimale medikamentöse Therapie“ (OMT) nachgewiesen.[2] Hier besteht Unterversorgung, weil die Medikamente nur einem Teil der Patient:innen verschrieben wird. Zur OMT zählen Substanzgruppen wie Plättchenhemmer, Lipidsenker, Betablocker und ACE-Hemmer.

Ärztinnen und Ärzte bieten Patient:innen mit Krebs keine ausreichende Gelegenheit zur gemeinsamen Entscheidungsfindung.[3] Eine Abwägung der Therapieziele Lebenszeitgewinn und Lebensqualität findet häufig nicht statt. In der Folge willigen insbesondere Patient:innen mit nicht heilbaren, im fortgeschrittenen Stadium befindlichen Tumoren in Therapien ein, die sie abgelehnt hätten, wenn sie über den – zumeist geringen – Gewinn an Lebenszeit und die negativen Auswirkungen der Therapie auf die Lebensqualität informiert gewesen wären.[4] Hier besteht also eine Überversorgung an therapeutischen Maßnahmen bei gleichzeitiger Unterversorgung an gemeinsamer Entscheidungsfindung.

Befragungen zeigen, dass Probleme von Über- und Unterversorgung den Ärztinnen und Ärzten bewusst sind.[5][6] Die Leitlinie „Schutz vor Über- und Unterversorgung – gemeinsam entscheiden“ der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM 2023)[7] bezieht sich auf Empfehlungen der qualitätsgesicherten Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF ).

Treiber der Überversorgung

Der Sachverständigenrat für Gesundheit hat festgestellt, dass Leistungen erbracht werden, auch wenn die Indikation dafür nicht vorliegt.[8] Ursache dafür ist eine „toxische Mischung aus Helfenwollen, Nichtwissen und Geldverdienen“.[9] Strukturelle Defizite tragen in Deutschland zu einer Überbeanspruchung von Fachärzt:innen und zur Überversorgung mit fachärztlichen Leistungen bei. Eine gut ausgestattete Primärversorgung der Bevölkerung könnte viel an Überversorgung verhindern. Auch werden derzeit viele Patient:innen im Krankenhaus behandelt, die auch ambulant versorgt werden könnten und sollten.[10]

Überversorgung und Unterversorgung mindern

Hinter jeder medizinischen Entscheidung, die zu Über- oder Unterversorgung führt, steht eine Ärztin oder ein Arzt. Jede Ärztin und jeder Arzt kann zur Minderung von Über- und Unterversorgung beitragen, indem er oder sie

  • sich aus qualitativ hochwertigen Quellen informiert, wie z. B. den Leitlinien der AWMF,
  • in der gemeinsamen Entscheidungsfindung patient:innenrelevante Behandlungsergebnisse mitteilt und
  • Denkmuster kritisch anhand von Evidenz reflektiert, wie: „mehr (Diagnostik, Therapie) ist besser“, „neu / innovativ ist besser“ oder im Zusammenhang mit Krankheitsfrüherkennung „früher erkannt ist besser“.

Einen gesundheitspolitisch großen Wurf, der alle Qualitätsprobleme in der medizinischen Versorgung löst, wird es nicht geben. Jedoch sind einzelne Schritte denkbar und möglich. Die kürzlich vorgelegten „Zehn Reformvorschläge für ein zukunftsfähiges Gesundheitswesen“[11] weisen gesundheitspolitisch in die richtige Richtung und sind innerhalb des derzeitigen Gesundheitssystems umsetzbar. Darin werden u. a. benannt: die Konzentration der Versorgung für die Qualität, die Reduktion unnötiger Arzt-Patient-Kontakte, klare Regeln für Patient:innen hinsichtlich der richtigen Anlaufstelle in Abhängigkeit von den Beschwerden („Selbst-Navigation“), neue fachliche Kompetenzen für die primärmedizinische Versorgung für definierte Behandlungsanlässe, Heilkundeausübung für akademisch qualifizierte Pflegefachpersonen und insbesondere die rechtliche, planerische und organisatorische Zusammenführung des Gesundheitswesens als Endpunkt eines Reformprozesses.

Internationale Initiativen wie Preventing Overdiagnosis und Choosing Wisely und nationale Initiativen wie Gemeinsam Klug entscheiden, Share to Care und nicht zuletzt MEZIS zielen auf die Verbesserung der Versorgungsqualität und somit auf die Minderung von Überversorgung und Unterversorgung. 

Fazit:

Überversorgung und Unterversorgung sind medizinischer Alltag. Der ärztlichen Selbstverwaltung, dem Gesetzgeber und der gemeinsamen Selbstverwaltung von Krankenkassen, Krankenhäusern und Ärzt:innen kommt eine hohe Verantwortung für das Versorgungsgeschehen zu; bei der Wahrnehmung dieser Verantwortung besteht noch Luft nach oben. Ein Gesundheitssystem, das Überversorgung und Unterversorgung ausschließt, ist nicht machbar. Ein Finanzierungssystem, das die genau richtige Versorgung belohnt und jede überflüssige oder fehlende Behandlung bestraft, ist nicht denkbar. Es wird immer finanzielle Anreize zum Handeln oder Unterlassen geben. Daher kommt der ärztlichen Ethik, die uns gebietet, unsere eigenen Interessen hinter das Wohlergehen unserer Patient:innen zu stellen, stets eine übergeordnete Bedeutung zu.

Autor

David Klemperer

David Klemperer ist Internist und Facharzt für Öffentliches Gesundheitswesen mit den Zusatzbezeichnungen Sozialmedizin und Umweltmedizin. Er war in der klinischen Medizin, dem öffentlichen Gesundheitsdienst und der Hochschule tätig (Lehre für Public Health und Sozialmedizin). Seit 2024 arbeitet er in einer Allgemeinmedizinpraxis in Berlin. Ihn beschäftigen Fragen zur Patientenorientierung und zu Interessenkonflikten.

Fußnote