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„Smarte Zahnmedizin“ und „zweiter Gesundheitsmarkt“

  • PAUL SCHMITT

Das sind zwei perfide Euphemismen, häufig in unseren Fachzeitschriften zu lesen, sozusagen die neuen „Trends“ der Branche. Was steckt dahinter?

Die „smarte Zahnmedizin“ ist die angebliche Zukunft des Fachgebiets (laut „zm“). Der „zweite Gesundheitsmarkt“ ist schon länger die heimliche, lukrative Wachstumsbranche der zahnärztlichen Betriebswirte, Gründungsseminarleiter („boot camps“), „Praxiscoaches“ und anderer selbsternannter Dental-Fachleute.

Die „richtigen“ Zahnärzte halten sich etwas zurück. Ist auch alles eher etwas unseriös, denke ich. Denn „zweiter Gesundheitsmarkt“ klingt wesentlich seriöser, als es ist. Hier versammelt sich alles, was gesetzliche und private Kassen für nutzlos bzw. entbehrlich halten: Aufkleben von Schmucksteinchen auf Frontzähne („Twinkler“), massive, oft sehr unnatürliche Zahnaufhellungen, „Veneers“ (Verblendschalen) aus konfektionierten (nicht individuell erstellten) dünnen Zahn-(Teil-) verkleidungen, für die schnelle Schönheit. Also sehr kritikwürdige, rein der Eitelkeit geschuldete, kosmetische (nicht ärztliche) Maßnahmen einerseits.

Aber auch „Störfelddiagnostik“, „Elektroakupunktur“ für dubiose „Materialaustestungen und Homöopathie zählen dazu. Klassische Akupunktur im Kopf-Mundbereich wird auch gerne privat betrieben. Wobei bisher nur (sehr geringe) Erfolge im Bereich der reinen Knieakupunktur in der Allgemeinmedizin beschrieben wurden, und auch das wird sehr kontrovers diskutiert.

Am Kopf gibt es bisher keine Wirksamkeitsbelege. Trotzdem wird Ohrakupunktur in Verbindung mit Zahnbehandlung privat angeboten, um angeblich Schmerzen und Würgereiz zu senken. Implantate möchte ich hier ausnehmen, denn sie werden sehr oft aus guten Gründen, direkt oder indirekt, (über den darauf verankerten Zahnersatz) von den Kassen bezuschusst, und das ist auch richtig. Sie sind wissenschaftlich anerkannt und gut etabliert, allerdings als teure Privatleistung (von Unfallfolgentherapien abgesehen).

Der „zweite Gesundheitsmarkt“ ist also ein Geschäftsfeld, das mit Gesundheit eigentlich nur sehr wenig, wenn nicht gar nichts zu tun hat. Höchstens noch mit gesunden Praxisfinanzen. Doch es gibt große Befürworter für eine Etablierung dieser „Verfahren“ in unseren Praxen. In aller Regel sind das allerdings „Nichtapprobierte“, also Marketingleute, Banker, Betriebswirte. Auch viele „Scharlatane“ und Medizingerätehersteller sind dabei („Elektroakupunktur nach Voll“). Sie verbreiten ihre Empfehlungen teils auch auf ganz offiziellen zahnärztlichen Kanälen, und das ist dann doch ziemlich erschreckend. Es muss einmal scharf kritisiert werden.

1.800 Euro jährlich aus eigener Tasche für Gesundheit und Schönheit

So war in einer älteren Ausgabe der „zm“, den „Zahnärztlichen Mitteilungen“, über die „smarte Zahnmedizin“ der Zukunft folgendes zu lesen: „So nahm im Zeitraum von 1991 bis 2017 die Anzahl der jährlichen Füllungen um 46 Prozent, der Extraktionen um 30 Prozent und der Wurzelbehandlungen um 10 Prozent ab.“ Das stimmt, und es ist eigentlich ein toller Erfolg der Zahnmedizin in Deutschland. Außerdem: „Eine ohne Schwerpunkt betriebene Praxis erwirtschaftet rund 50 bis 80 Prozent des Honorars mit der `Kons` (Füllungstherapie), somit trifft dieser Rückgang die meisten Praxen an ihrer Haupt-Umsatzsäule (!). Weniger Extraktionen bedeuten zudem zeitgleich weniger Implantationen.“

Bis hierher stimmt alles, doch dann kommt es doch ganz anders: „Die Aufgabe besteht somit darin, das bestehende Leistungsspektrum sinnvoll zu erweitern. Doch wie?

Und jetzt wird es doch sehr unseriös. Diese Frage ist entlarvend. „Dazu reicht ein Blick über den Tellerrand auf den zweiten Gesundheitsmarkt, der in den vergangenen Jahren stetig gewachsen ist.“ Und genau das, muss uns jetzt zu denken geben, denn vieles war und ist schlicht unseriös. „Der zweite Gesundheitsmarkt umfasst alle gesundheitsrelevanten Dienstleistungen und Waren, die aus privaten Konsumausgaben (!) finanziert, also nicht von einer privaten oder gesetzlichen Krankenkasse im Rahmen der Vollversicherung ganz oder teilweise übernommen werden.“

Das trifft auf alles zu, denn diese Leistungen sind – fast ausnahmslos – entbehrlich bis nutzlos. Und oft recht teuer. „1.800 Euro pro Jahr sind die Bundesbürger bereit, aus eigener Tasche für Gesundheit, Schönheit, und Wellness auszugeben.“ Dieses Geld lockt: Da will man herankommen, das ist das Ziel. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Der Betriebswirt will „zusätzliche Umsatzsäulen in den Praxen aufbauen“ (Originalzitat.) Die beiden wichtigsten Punkte sind dabei „Bleaching“ und „Ästhetische Zahnmedizin“, aber auch explizit „Ästhetische KFO“ (bei Erwachsenen mit Zahnfehlstellungen). Es werden aber auch „spezielle Angebote“ für „Silver Ager“ angepriessen, was auch immer das nun sein mag.

Private Zweitprothesen vielleicht? Faltenunterspritzung? Auch das gibt es in Zahnarztpraxen inzwischen schon… Die Conclusio vor vier Jahren: „Eine Anpassung des Leistungsspektrums um die Themen des zweiten Gesundheitsmarktes wird sich für die Zahnärzte in den meisten Fällen (!) nicht vermeiden lassen“. Eine Prognose, jetzt Realität in vielen „erfolgreichen“ Praxen.

Ideale werden zurückgedrängt

Diese rein betriebswirtschaftliche Sichtweise ist ganz ohne moralische Skrupel. Wird eine Leistung nicht angenommen, fliegt sie aus dem Portfolio, ganz einfach. Im „Manager-Magazin“ wäre das alles wohl ganz normal. Aber diese Inhalte standen jahrelang in der „zm“, unserer wichtigsten Fachzeitschrift, unserer „Pflichtlektüre“, herausgegeben von der Bundeszahnärztekammer und der KZBV.

Was macht das mit dem Berufsstand? Es drängt Ideale zurück, es korrumpiert auch, soviel dürfte klar sein, denke ich. Ein weiterer Autor der „zm“, dieses Mal ein Zahnmediziner, unterstützte diesen Kurs dennoch: „Das Bleaching wird ökonomisch immer wichtiger, denn es baut den Zugang zum sogenannten `zweiten Gesundheitsmarkt` weiter auf. Hier handelt es sich um Behandlungen, die der Patient aus eigener Tasche bezahlt. Dies ist für viele Praxen heutzutage essenziell wichtig, um zu überleben.“

Damit ist ein Damm gebrochen. Und das Vertrauen unserer Patient:innen erodiert immer weiter. Es wird durch solche Meinungen, durch solche fraglichen, weil geradezu unethischen, nämlich vorwiegend renditegetriebenen (!) „Praxiskonzepte“ („Smarte Zahnmedizin“) sogar langfristig ganz hinweggespült. Wir erleben das gerade: Immer mehr Patienten holen sich angesichts seltsamer bzw. extrem teurer Behandlungspläne Zweitmeinungen ein.

Unverantwortlich, das Ganze, denke ich. Man kann auf „Bleaching“ und den „zweiten Gesundheitsmarkt“ doch nicht ernsthaft eine Praxis aufbauen….

Autor

Dr. med. dent. Paul Schmitt ist seit 1986 in Frankfurt am Main als Zahnarzt niedergelassen und Mitglied bei MEZIS seit 2013.

Interessenkonflikt
Kammerzertifizierter Tätigkeitsschwerpunkt Endodontie seit 2003 (private und GKV-Endodontie), interner Gutachter einer großen Haftpflichtversicherung für Zahnärzte.