
-
Rubrik: Artikel aus MEZISreihen
-
Schlagwörter: Medikalisierung, Medikalisierungskritik, Pathologisierung, Profitmaximierung, Übertherapie
Medikations- und Medikalisierungskritik: Kontinuitäten und Brüche
-
BETTINA WAHRIG (Vortrag)
-
MEZIS & VdPP Fachtagung 2024 „Medikalisierung, Übertherapie, Pathologisierung“
Der Vortrag auf der gemeinsamen Tagung von MEZIS und VdPP zum Thema „Wie krank ist das denn?“ stellt Ansätze der Medikalisierungskritik von Ivan Illich und Michel Foucault sowie die wissenschafts- und kulturkritische Vorgehensweise von Erika Hickel vor. Im Januar 2025 erscheint eine ausführliche Fassung dieses Beitrages im VdPP-Rundbrief 121.
Medikalisierung: Pschyrembel, Illich, Foucault
Nach Pschyrembel versteht man unter Medikalisierung eine „einseitige Verschreibungspraxis“ sowie die „Pathologisierung von Befindlichkeitsstörungen“,[1] häufig wird der Begriff in den Bereichen Medikalisierung der Menopause, der Schwangerschaft und des Alters verwendet.
Wenn Ivan Illich von „Medikalisierung“ spricht,[2] dann sieht er diese als Produkt des globalen Industriekapitalismus und Effekt des medizinisch-industriellen Komplexes an, der eine zunehmende Entmachtung der Einzelnen gegenüber ihren eigenen Körpern bewirkt und individuelle Auswege zunehmend versperrt. Kurz: Es findet eine „Enteignung von Gesundheit“, eine Enteignung eigenen Körper- und Krankheitswissens statt. Unter industriellen Vorzeichen bedeutet die Entwicklung der modernen Medizin: Je mehr Möglichkeiten zur Bekämpfung von Leiden diese zur Verfügung stellt, umso mehr Ressourcen sauge sie auch auf, was zu einer endlosen Spirale der Profitmaximierung führe. Der rationale Fortschrittsoptimismus, die Ideologie des „technological fix“, löse keine Probleme, sondern schaffe sie erst. Ein Fall von Hybris also. Im Bann der „Gesundheitsindustrie“ wird, so Illich, eine Gesellschaft abhängig, und es entsteht eine Nachfrage nach dem Sucht-Prinzip, nach dem Motto des „more of the same“. Illich verknüpft die Wachstumskritik der 1970er Jahre mit der Kritik am Kolonialismus und setzt das Ziel einer selbstbestimmten, de-institutionalisierten Wissensproduktion dagegen.
Michel Foucault lässt die Geschichte der Medikalisierung Ende des 17. Jahrhunderts beginnen. In seinem frühen Werk taucht das Wort „médicalisation“ zuallererst im Zusammenhang der Diskurse über Irresein auf. Psychische Krankheit wurde im 18. Jh. in die Zuständigkeit der Medizin überführt. Mit dem neuen Typ von Klinik ergaben sich 1. die Umwandlung des Hospitals von einem Ort der Fürsorge zur Klinik als einem Ort der Therapie, 2. die Verbindung zwischen akademischer, experimenteller und klinischer Forschung mit der täglichen therapeutischen Praxis und 3. die Integration der pathologischen Anatomie in die Klassifikation und Erklärung von Krankheiten. Die meist mittellosen Kranken wurden auch Objekte der Forschung. Mit der Verbindung von Statistik und experimenteller Therapieforschung, sowie der Hygiene und moderner Klinik konnte entstehen, was Foucault „Biopolitik der menschlichen Gattung“ nennt.
Diese Sorte von Machttechnologie zielt nicht mehr vorrangig auf die Disziplinierung Einzelner, sondern auf ganze Gruppen, etwa die Grundgesamtheit „Nation“ oder die „menschliche Gattung“. Sie wirkt regulierend und nicht vorwiegend disziplinierend: Statt ‘Sterben zu machen und Leben zu lassen, [zielt sie darauf,] Leben zu machen und Sterben zu lassen’.[3] Aufgrund dieser Verwandlung des Individuums in ein Mitglied einer Kohorte und gleichzeitig Teil einer Spezies – des Lebewesens Mensch – konnten Machtverhältnisse unsere Körper durchdringen wie ein Spinnennetz aus Gefühlen, Konzepten, Werten und Praktiken.
Allerdings hatten die experimentellen Wissenschaftler:innen des 19. Jahrhunderts zunächst andere Prioritäten.[4] Im Tierexperiment ging es um deterministisch-kausale Erklärungen, für die das Wahrscheinlichkeitsdenken der Statistiker nicht zu passen schien. Fürsprache bekam die reduktionistische Vorgehensweise jedoch durch die Erfolge der Bakteriologie. Eine einzige, im Mikroskop sichtbare Ursache ersetzte die Vielfalt der vorher diskutierten sozialen, Umwelt- und pathogenen Faktoren für die Ausbreitung der großen Epidemien: Für diesen monokausalen Ansatz fehlte nur noch das eine spezifische Medikament. Obwohl nach wie vor die klassischen Maßnahmen der Seuchenbekämpfung über den Verlauf von Epidemien entschieden, wird bis heute der Anfang einer naturwissenschaftlich begründeten, kausalen Therapie in der Zeit der aufstrebenden Bakteriologie und deterministisch argumentierenden Medizin und Physiologie verortet. Eine These, der nicht nur damals Rudolf Virchow widersprach, sondern der später auch jene sozialmedizinisch argumentierenden Kritiker wie Thomas Mc Keown widersprachen, die z. B. Ivan Illich für seine Argumentation heranzog. Die Per- spektive ließ sich umdrehen: Es waren die sozialen Umstände, die über Verbreitung, Verlauf und Bekämpfung von Krankheiten genauso entschieden wie die medizinischen Maßnahmen.
Mit dem Optimismus einer kausal und deterministisch argumentierenden Medizin ging oft ein schlecht begründeter Optimismus einher, ein „Boom-Bust“- Muster der Einführung neuer Medikamente und der Ernüchterung über mangelnde Effizienz und schwer zu tolerierende Nebenwirkungen.
Die Pharmazeutin und Wissenschaftshistorikerin Erika Hickel argumentiert, dass sich mit der Etablierung des Begriffs der „Nebenwirkung“ ein reduktionistisches Verständnis von Arzneimittelwirkungen endgültig etabliert habe. Wirkungen und Nebenwirkungen würden in Gedanken voneinander getrennt. Damit würden vorher komplex gedachte Arzneimittelwirkungen auf das Mess- und Beherrschbare reduziert.
Naturwissenschaftliche Medizin und Pharmazie seien daher Quelle nicht nur von Fortschritten, sondern auch von Risiken und Gefahren. Ihr Hauptwerk „Die Arzneimittel in der Geschichte“ zeigt für jede der historischen Epochen das sozial-kulturelle Bedingungsgeflecht für Arzneimittelproduktion und -konsum auf: „Die modernen Wundermittel waren Produkte der naturwissenschaftlich-medizinischen Forschung.“[5]
Fazit:
Für die Aufgabe, wissenschaftlich begründet und historisch situiert, die Entwicklung der modernen Medizin zu begleiten, ist es wünschenswert, sozialwissenschaftliche und historische Ansätze mit denen des pharmazeutischen und medizinischen Wissens zu verbinden.
Autorin

Bettina Wahrig
Bettina Wahrig ist seit 1997 Professorin für Pharmazie- und Wissenschaftsgeschichte an der Technischen Universität Braunschweig. Nach einem Studium der Medizin und Philosophie promovierte sie in Medizingeschichte und arbeitete an der Universität Lübeck als Assistentin, wo sie sich 1996 in Theorie und Geschichte der Medizin habilitierte.
Fußnote
- (1) Pschyrembel, 267. Aufl., 2017, S. 1134f
- (2) Ivan Illich (1981): Die Nemesis der Medizin: Von den Grenzen des Gesundheitswesens. 1. Aufl. Hamburg: Reinbeck
- (3) Michel Foucault (1999): In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de Fance (1975-76). Frankfurt/Main: Suhrkamp. Hier Vorlesung vom 17. März 1976, S. 280-91, Zitat auf S. 280.
- (4) So z. B. Claude Bernard (1961): Einführung in das Studium der experimentellen Medizin (Paris 1865). 1. Aufl. Leipzig: Barth (Sudhoffs Klassiker der Medizin, 35), S. 194 f.
- (5) Erika Hickel (2008): Die Arzneimittel in der Geschichte: Trost und Täuschung – Heil und Handelsware. Nordhausen: Bautz (Edition Lewicki-Büttner, 4), S. 535.
Neuste Beiträge aus dieser Rubrik
-
Deprescribing: Weniger ist manchmal mehr
-
Zu viel, zu teuer und zu wenig Nutzen
-
Überversorgung und Unterversorgung mindern
-
Was korrumpiert uns?
-
„Smarte Zahnmedizin“ und „zweiter Gesundheitsmarkt“