
-
Rubrik: Artikel aus MEZISreihen
-
Medikalisierung – Übertherapie – Pathologisierung: Welche Rolle spielen wir selbst dabei?
-
MANJA DANNENBERG (Workshop)
-
MEZIS & VdPP Fachtagung 2024 „Medikalisierung, Übertherapie, Pathologisierung“
Wenn wir über Medikalisierung, Übertherapie und Pathologisierung diskutieren, fokussieren wir uns schnell auf Arzneimittelhersteller und die Medizinindustrie als Verursacher, die durch mehr Krankheiten und mehr Behandlungen bzw. Verordnungen ihre Gewinne maximieren, und also gut daran verdienen, Ängste zu schüren, für Beschwerden und Risiken zu sensibilisieren, und Linderung und Heilung oder Gesunderhaltung durch ihre Produkte zu versprechen.
Dieses System funktioniert jedoch nicht ohne Mitspieler. Und so müssen wir uns auch selbst kritisch hinterfragen: Welche Rolle spielen wir dabei als Ärztinnen und Ärzte, als Apothekerinnen und Apotheker – aber auch als Bürgerinnen und Bürger?
Als Bürgerinnen und Bürger möchten wir eine schnelle Linderung von Beschwerden erfahren. Wir suchen gern nach bequemen Lösungen, wenn es um den Erhalt unserer Gesundheit geht. Wir schätzen die Möglichkeiten moderner Medizin und sind nicht immer bereit, Einschränkungen als Folge unseres täglichen Verhaltens oder als natürlichen Prozess in unserem Lebensverlauf zu akzeptieren.
Sind wir dadurch nicht auch empfänglicher für Heilsversprechen, und blenden Risiken und geringe Zusatznutzen von Behandlungen aus? Begeben wir uns dadurch nicht auch bereitwilliger in Untersuchungen und Früherkennungen, erhoffen uns durch technische Verfahren greifbare Antworten und durch umfangreiche Vorsorgen ein längeres Leben? Sind wir im Grunde nicht dankbar für die schnelle Verfügbarkeit einer breiten Palette von Arzneien und greifen gern zur schnell wirkenden Pille?
Als Ärztinnen und Ärzte fühlen wir uns mit diesem Erwartungsdruck konfrontiert und begeben uns damit nicht selten in einen Beziehungskonflikt mit unseren Patientinnen und Patienten. Wir sehen uns mit Zeitnot konfrontiert, die ausführliche Beratungen, das sorgfältige Abwägen von Argumenten und eine fundierte gemeinsame Entscheidungsfindung nicht immer ermöglicht – ein Nährboden für schnelle Lösungen: das Ausstellen eines Rezeptes oder einer Überweisung, oder das Anordnen einer (vielleicht unnötigen) Untersuchung.
Unsere Kontakte mit Patientinnen und Patienten legitimieren wir gegenüber Kostenträgern mit Diagnosen. So braucht eine stationäre Aufnahme zur Begründung eine (Verdachts-) Diagnose und Arbeitsunfähigkeiten bescheinigen wir zwingend damit. All dies sind Formen systembedingter Pathologisierung.
Unser Gesundheitssystem setzt darüber hinaus gezielt finanzielle Anreize zur Verschlüsselung bestimmter Diagnosen: als Voraussetzung zur Einschreibung in ein Disease-Management-Programm, zur Rechtfertigung einer teuren Prozedur oder zur Abrechnung einer zusätzlichen Chronikerpauschale. Natürlich handeln wir primär nach medizinischen Gesichtspunkten – aber legen wir vor diesem Hintergrund nicht doch gewisse Interpretationsspielräume großzügiger aus und stellen Diagnosen eher?
Unser ärztlicher Anspruch, die bestmögliche Untersuchung und Behandlung für jede einzelne Patientin und jeden einzelnen Patienten auszuwählen, unterliegt noch vielfältigen anderen Einflüssen: unseren unternehmerischen Verpflichtungen als Praxisinhabende, Vorgaben des Klinikbetreibers oder von Vorgesetzten, dem Ehrgeiz beim Erreichen eines Weiterbildungsziels, Regelungen unserer Selbstverwaltungsorgane, persönlichen Bindungen u.v.m. Wir wägen ständig ab, oft unbewusst. Nicht immer im Sinne einer evidenzbasierten Medizin und nicht immer zum Wohle unserer Patientinnen und Patienten!
Auch selbständige Apothekerinnen und Apotheker befinden sich, wie niedergelassene Ärztinnen und Ärzte, immer im Spannungsfeld zwischen kaufmännischer Verantwortung bzw. betriebswirtschaftlichem Gewinnstreben und der Ausübung eines Heilberufes mit dem ausschließlichen Ziel, zum Wohle unserer Kundinnen und Kunden bzw. Patientinnen und Patienten zu handeln. Auf der einen Seite verdienen wir an Krankheiten und Behandlungen, an Vorsorgeuntersuchungen und Früherkennungen, auf der anderen Seite wollen wir gesund erhalten, möglichst wenig eingreifen, nicht unnötig untersuchen und nicht schaden.
Ein Widerspruch, den wir nicht auflösen können, der unser Handeln bestimmt und uns ständig zu Kompromissen zwingt.
In einem System – im Kleinen wie im Großen – kann niemand unabhängig agieren. Unser Tun wird von vielen Faktoren bestimmt – es kommt zunächst darauf an, uns all diese Abhängigkeiten und Verstrickungen bewusst zu machen und im nächsten Schritt unsere Entscheidungen und Empfehlungen mit diesem Blick kritisch zu hinterfragen. Und dann täglich zu entscheiden, wo wir noch mitspielen und wo wir widerstehen wollen.
Autorin

Manja Dannenberg
Manja Dannenberg verschlüsselt in ihrer Funktion als niedergelassene Hausärztin in Mecklenburg-Vorpommern Diagnosen, attestiert chronische Krankheiten und verordnet Medikamente. Seit 2011 ist sie Vorstandsmitglied bei MEZIS.
Neueste Beiträge
-
Direkt-to-Consumer Advertisement (DTCA) in Deutschland: Nur ein bisschen verboten?
-
Medikalisierung, Übertherapie und Pathologisierung – die Rolle der gemeinschaftlichen Selbsthilfe als Partnerin in der Gesundheitsversorgung
-
Die Krankheitserfinder: Wie wir zu Patienten gemacht werden
-
Medikalisierung als Erkenntnis und/oder Herrschaftsmethode?
-
Wie sich Medikalisierung, Übertherapie und Pathologisierung auf das Klima und die Umwelt auswirken