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Deprescribing: Weniger ist manchmal mehr

  • PETRA THÜRMANN (Vortrag)

  • MEZIS & VdPP Fachtagung 2024 „Medikalisierung, Übertherapie, Pathologisierung“

Was ist das Problem?

Bei älteren Menschen tragen Arzneimittel manchmal mehr zu Problemen und oftmals weniger zur Lösung eines Problems bei.
Gerade unsere Älteren nehmen oft mehrere, sogar weit mehr als 5 verschiedene Arzneimittel ein. Im Laufe des Lebens sammeln sie quasi wegen mehrerer Erkrankungen mehrere Mittel ein – und zwar vollkommen leitliniengerecht! Dabei ist unbekannt und weitgehend unerforscht, welche Wechselwirkungen zwischen vielen verschiedenen Arzneimitteln entstehen können und folglich, welche Wirkung im menschlichen Körper resultiert.

Pharmakotherapie im Alter und bei Multimorbidität

Was uns inzwischen aus Studien [1] gut bekannt ist: Alte Menschen erleiden mehr unerwünschte Arzneimittelwirkungen als junge. Es gibt beispielsweise Mittel, die als Nebenwirkung Schwindel auslösen können. Das ist im Alter von 30 Jahren unproblematisch, während es mit 80 zu einem Sturz mit Oberschenkelhalsbruch führen kann. Alte, gebrechliche Menschen sind häufig empfindlicher, zeigen paradoxe Reaktionen auf Arzneimittel oder, aufgrund einer gestörten Gegenregulation, eine unerwartet stärkere Wirkung, wie den raschen Blutdruckabfall bei Blutdrucksenkern oder die Dehydratation bei entwässernden Mitteln.[2]

Warum werden betagte Patient:innen nicht in klinische Studien eingeschlossen?

Welche Wirkung mehrere Medikamente auf ältere Menschen haben, ist auch deshalb unerforscht, weil diese Personengruppe aus Sicherheitsgründen häufig nicht in die Klinischen Studien zur Prüfung der Wirksamkeit und Sicherheit neuer Medikamente eingeschlossen wird. Das Risiko, dass sie in der Studienlaufzeit ausfallen, z. B. sterben, weil sie alt sind, oder aus anderen Gründen nicht bis zum Schluss mitwirken können, dass sie möglicherweise sogar einem Unfallrisiko ausgesetzt sind, weil sie auf dem Weg zum Studienzentrum stürzen könnten, führt dazu, dass diese Altersgruppe eher systematisch aus- als in Studien eingeschlossen wird. Auch die im höheren Alter oder bei Gebrechlichkeit relevanten Endpunkte, wie Sturzhäufigkeit oder Kognitionsveränderungen werden nicht systematisch erfasst. Das bedeutet: In einem gebrechlichen Körper – wobei es unerheblich ist, ob das biologische Alter nun 63 oder 94 ist – ist die Wirkung von Arzneimitteln anders als erforscht und oft anders als erwartet.[3]
Wir wissen beispielweise, dass im Alter die Nierenfunktion häufig nachlässt, und dass gleichzeitig die meisten im Alter verordneten Mittel normalerweise über die Niere ausgeschieden werden. Wenn die Nierenfunktion nun herabgesetzt ist — was passiert mit den eingenommenen Mitteln im Körper eines älteren Menschen? Welche Handlungen sollten dann von ärztlicher verordnender Seite erfolgen? Sollten die Dosen angepasst werden? Wie sollte das durchgeführt werden, und welche praxistauglichen Parameter werden herangezogen? Wie oft sollten Kontrollen durchgeführt werden? Die wenigsten Leitlinien ziehen die Lebensrealität von alten Menschen mit Multimorbidität in die Empfehlungen mit ein.

Wir untersuchten in mehreren Studien, wie überhaupt die wissenschaftlichen Kenntnisse zu der Wirkung von Arzneimitteln bei Polypharmakotherapie (mehrere verschiedene Medikamente ohne adäquate Überwachung) im Alter sind, und ob Medikamente im Alter wieder abgesetzt werden können, ohne dass die Menschen häufiger ins Krankenhaus kommen oder eher sterben.

Es gibt international viele Studien, auch Cochrane-Reviews, zu negativen Ereignissen und Wirkungen von Medikamenten im Alter, z. B. zu Protonen Pumpen-Inhibitoren [4], Antidiabetika [5], Statinen [6], Psychopharmaka [7], Harnsäuresenkern [8], Antihypertensiva [9] und zu potentiell inadäquater Medikation, anticholinerge und sedierende Pharmaka und FRIDS (fall-risk increasing drugs) [10]. Aufgrund dieser Studien erstellten wir die PRISCUS-Liste, [11] die spezifisch die in Deutschland zugelassenen Mittel auf ihre Wirkung bei älteren Menschen zusammenfasst, alternative Substanzen und auch andere Therapien vorschlägt, für Fälle, in denen sich das Medikament nicht absetzen lässt. Wir fassen darin die Evidenz für eine sichere Verordnung zusammen, und listen auf, für welche Medikamente es keine Evidenz für ein Beibehalten gibt. 

Absetzen – aber wie? Barrieren und Ängste

Die Problematik des Prozesses des Absetzens von Medikamenten bei älteren Menschen ist dabei ebenfalls ein wichtiges Untersuchungsfeld. Wir führten dazu viele Interviews, um die Sicht von Ärztinnen und Ärzten, Patientinnen und Patienten und Angehörigen kennenzulernen. Denn es ist klar, dass ein Absetzen von Medikamenten angstbesetzt ist [12]: Ärzt:innen fürchten unerwünschte Absetzreaktionen, ein Wiederauftreten der Symptome, das Handeln wider Leitlinienempfehlungen oder gegen die Empfehlungen eines Spezialisten, und nicht zuletzt ist es peinlich zuzugeben, dass ein Medikament vielleicht auch wieder abgesetzt werden kann, wenn es vorher als absolut wichtig dargestellt wurde, eingenommen zu werden. Patient:innen und Angehörige interpretieren einen Absetzversuch als ein Zeichen, dass ihr Leben nicht mehr wert ist, mit Medikamenten unterstützt zu werden, oder sie sind verwirrt durch widersprüchliche Aussagen verschiedener Ärzte und Ärztinnen. Häufig sind die Therapieziele unklar, dass es sich z. B. um eine präventive Maßnahme handelt, und man als Patient:in eigentlich die Wahl hat, ob man ein Medikament nimmt oder nicht, je nach der eigenen Einschätzung und Bewertung eines Krankheitsrisikos. 

Deprescribing – der Prozess

In der Studie COFRAIL untersuchten wir, wie Patientinnen und Patienten mit ihren Angehörigen zusammen im Gespräch mit der Ärztin oder dem Arzt über die eingenommenen Medikamente sprechen und wie es möglich sein könnte, Mittel abzusetzen. Eine eindeutige Empfehlung ließ sich aus unserer Studie nicht ableiten, dazu ist die Problematik zu komplex. Wir konnten feststellen, dass die von uns entwickelten Flow-Charts zum systematischen Absetzen gern von den an der Studie teilnehmenden Ärzt:innen angewendet wurden, ebenso die Formulierungshilfen, mit denen im Medikationsgespräch („Brown bag“ Review) auf das Absetzen und das Eruieren der Patient:innenpräferenzen eingegangen wird. Dieses Material stellen wir Ihnen gern zur Verfügung [13] (https://www.cofrail.com).

Wichtig ist das systematische Vorgehen in der (haus-) ärztlichen Betreuung, nicht nur bei älteren und multimorbiden Patientinnen und Patienten, sondern bei allen Verordnungen.

Beim Verordnen eines Medikamentes für Menschen jeden Alters ist es sinnvoll, in einem Kontinuum von An- und Absetzen zu denken. Unter welchen Bedingungen wird das Medikament wieder abgesetzt? Gibt es einen festen Zeitrahmen oder bestimmte Bedingungen, unter denen das Medikament wieder aus dem Leben des behandelten Menschen verschwinden darf?

Was ebenfalls wichtig ist: Alle bereits verschriebenen und eingenommenen Medikamente immer mitbedenken und jedes neue Symptom daraufhin überprüfen, ob es „Nebenwirkung“ eines Medikamentes sein könnte, bevor ein neues Medikament hinzugefügt wird. Nicht selten sind Medikamente die Ursache für das neue Symptom. Gibt es möglicherweise bereits Verordnungskaskaden?

Indikationen und den Nutzen von Pharmaka regelmäßig mit den Patient:innen gemeinsam besprechen und immer wieder überprüfen, wie die Kenntnisse dazu sind. Vor allem mit älteren Patient:innen besprechen, ob sich die „Ansprüche“ geändert haben, ob Ängste bestehen und welche Bedürfnisse es gibt. Patient:innenpräferenzen sind „lebensnäher“ als die Ergebnisse von RCTs, die den Leitlinien zugrunde liegen. Das ist ein Spannungsfeld für behandelnde Ärzt:innen. Gemeinsam mit Patient:innen getroffene Entscheidungen und eine gute Dokumentation ergänzen die Empfehlungen aus Leitlinien. 

Autorin

Petra Thürmann

Petra Thürmann ist Ärztin für klinische Pharmakologie. Sie lehrt und forscht am Helios Universitätsklinikum Wuppertal und in der Klinischen Pharmakologie der Universität Witten/Herdecke insbesondere zur Pharmakovigilanz, der Arzneimitteltherapiesicherheit AMTS, geriatischer Pharmakotherapie (PRISCUS-Liste), multidisziplinären Interventionen in Pflegeheimen und in der Grundversorgung und mit Geschlechts-/ Gender-bezogenen Unterschieden in der Arzneimitteltherapie.

Fußnote