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Rubrik: Artikel aus MEZISreihen
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Übertherapie aus der Sicht einer Krebspatientin
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ANNETTE DIENER (Diskussionsbeitrag)
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MEZIS & VdPP Fachtagung 2024 „Medikalisierung, Übertherapie, Pathologisierung“
Bei unserer Fachtagung beleuchteten wir verschiedene Perspektiven von professionell im Gesundheitssystem tätigen Personen zur Medikalisierung, Übertherapie und Pathologisierung. Ich bin als Patientin das Ziel aller Bemühungen dieser Personen, denn: Meine Gesundheit soll wieder hergestellt werden. Oder?
Als Patientin (Oktober 2021) war ich in einer Art Angst-Trance: Ich hatte Angst um mein Leben. Warum ich das Wachstum des Knotens in meiner Brust lange beobachtete und erst aktiv wurde, als auch ein Knoten in der Achsel tastbar war, ist eine komplexe Geschichte. Ich hatte keine Angst vor zu wenig Medikamenten oder zu wenig Behandlung oder ob ich leitliniengerecht behandelt wurde. Ich hatte Angst davor, nicht als Mensch gesehen zu werden, sondern als Brustkrebs-Fall, als Zahl, als Nummer. Ich hatte großes Glück, wie ich finde, weil meine mich operierende Ärztin zufällig die Mutter eines Klassenkameraden meines Sohnes war. Mir war das gar nicht bewusst, als wir uns trafen, ich war zu durcheinander. Sie entschied, mir zu sagen, dass wir uns kennen – und das half mir, denn damit ließ sie eine Verbindung zu mir in anderen Rollen zu als nur die des Brustkrebsfalles, und ich hatte einen Zugang, ich entwickelte die Zuversicht, Bitten aussprechen zu können. Ich hatte keine Angst vor dem Verlust meiner Brustdrüse, ich hatte Angst vor einem Lymphödem im Arm durch die Entfernung meiner befallenen Lymphknoten in der Achsel. Das schien irgendwie nicht heilbar zu sein, und wurde in meiner Wahrnehmung als hinzunehmen dargestellt. Ich bat die Chirurgin um Schonung meiner Lymphknoten, denn in meinem Konzept von meiner Krebserkrankung spielen die Lymphknoten eine wichtige Rolle – nämlich die der Türsteher und Aufpasser – und deshalb wollte ich sie behalten, auch wenn sie möglicherweise Krebszellen enthielten. Ich bin promovierte Biologin, ich habe ein erlerntes Wissen über Immunologie, Biochemie und Molekularbiologie. Ich fand, dass dieser Teil meiner Persönlichkeit, über das erkrankte Gewebe hinausgehend, wichtig und anerkennenswert ist und hatte bei der Ärztin das Gefühl, diese Anerkennung zu haben. Im Übrigen war ich fest davon überzeugt, dass ich meinen Krebs heilen werde.
Die Entfernung des befallenen Gewebes ist nur ein Teil der Krebsbehandlung, und in der Zeit danach begegneten mir noch zahlreiche Behandler und Behandlerinnen meiner Erkrankung. Ich formuliere das absichtlich so, denn meine Persönlichkeit spielte bei keiner der Begegnungen noch eine Rolle. Ich hätte mir gewünscht, dass sie eine Rolle spielt, weil ich auf meinem Heilungsweg Zuspruch brauchte. Egal, ob ich nun die Bestrahlung, Chemotherapie oder Anti-Aromatase-Behandlung machte oder nicht: Wichtig wäre ein Kontakt zu einer Person gewesen, die mir Vertrauen schenkt in meinem Bemühen, gesund zu werden. Ich fand diese Person in einer Psychotherapeutin. Ich machte die Psychotherapie, um herauszufinden, warum ich solch einen Raubbau an mir getrieben hatte, dass ich krank wurde, und wie ich aus diesem Verhalten wieder herauskomme. Wir arbeiteten zusammen, und ich erhielt die Hilfe, die ich brauchte. Ich lernte seitdem (April 2022) unglaublich viel über mich, z. B. mich auf mich selbst zu verlassen, und dass ich einzig Einfluss auf mein eigenes Fühlen und Handeln habe. Ich lernte eine neue Kommunikation mit mir selbst und mit anderen. Die Psychotherapie gab mir das Handwerkzeug, den Lernprozess darf ich selbst durchführen. Ich kann nicht garantieren, gesund zu bleiben, mein Körper-Verstand-Gefühl- oder Bewusstsein-Unterbewusstsein-Gleichgewicht ist noch ungeübt und wackelig. Äußere Einflüsse bringen mich noch ins Stolpern oder lassen mich in alte Gewohnheitsstrategien zurückfallen, und gleichzeitig weiß ich, ich bin auf dem richtigen Weg.
In der Nachsorge fühle ich mich wiederum reduziert auf den „Brustkrebsfall“ und dem Prozess der Überwachung regelrecht ausgeliefert. Ist das Übertherapie? Oder meine eigene „Schwäche“ in Form (noch) nicht ausreichender Kommunikationsfertigkeiten und einem „Minderwertigkeitsgefühl“? Ich denke, es ist beides. Übertherapie von Seiten der Ärztin (und des Gesundheitswesens), die mir Untersuchungen nicht nur anbietet, sondern auch an mir durchführt, nachdem ich ausdrücke, sie nicht zu wollen. So kommt beispielsweise die Ärztin mit zum Tresen und teilt der MFA mit, dass ich einen Termin in 6 Monaten bekomme, und begleitet mich freundlich und bestimmt in den Nebenraum mit der Untersuchungsliege vom Schreibtisch und der Gesprächssituation weg. Ich empfinde die Situation als eigene Schwäche, weil ich ihr offensichtlich nicht klar genug mitteile, wo meine Grenzen sind. Es brodelt in mir, ich habe Angst und bin wütend. Meine inneren Stimmen teilen mir mit, dass hier etwas geschieht, das ich nicht gutheiße und gleichzeitig, dass ich mich nicht so haben soll, es wird ja nicht wehtun. Nicht meinem Körper, doch gleichzeitig tut es meinem Autonomiebedürfnis sehr weh. Und meine Erkrankung beruht auf einer langen Verletzung meiner Autonomie, weil ich meine Grenzen nicht offenlegte, aus Angst, dann für „schwach“ gehalten zu werden. Kann die Ärztin meine Angst spüren? Bestimmt. Kann sie auch annehmen, dass ich Angst vor ihrem Verhalten habe? Gesagt habe ich ihr das so explizit nicht, ich wusste es in dem Moment nicht auszudrücken.
Letztlich bestimme ich selbst: Ich sage den Nachuntersuchungstermin in der Praxis ab. Wenn ich einen neuen Termin brauche, werde ich ihn vereinbaren.
Autorin

Annette Diener
Annette Diener ist Biologin und seit 2020 angestellte Referentin bei MEZIS. Davor arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in verschiedenen Arbeitsgruppen und (meist medizinischen) Forschungsbereichen.
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