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Forschung „aus der Praxis, für die Praxis“ mit der Initiative Deutscher Forschungspraxennetze – DESAM ForNet

  • LEONOR HEINZ

In der Gesundheitsversorgung bleiben zahlreiche Arbeitsstellen unbesetzt, der Personalmangel ist deutlich spürbar – und das, obwohl in Deutschland 20% mehr Ärztinnen und Ärzte sowie 50% mehr Pflegende pro Kopf als im OECD-Vergleich1 vorhanden sind. Wie kann ein so großer Mangel bestehen, wenn die Ressourcen doch eigentlich da sind? Ein wichtiger Faktor sind strukturelle Schwächen des deutschen Gesundheitssystems mit Fragmentierung und fehlender Koordination der Versorgung.2 Dafür werden umso mehr Leistungen in Anspruch genommen und Interventionen durchgeführt, deren Nutzen häufig unklar bleibt, da patientenrelevante Outcomes regelhaft nicht erfasst werden. Die vorhandenen Ressourcen werden nicht effektiv im Sinne der Patientinnen und Patienten eingesetzt.

Sobald man sich mit der Frage beschäftigt, wie die vorhandenen Ressourcen effektiver im Sinne der Patientinnen und Patienten eingesetzt werden könnten – „value-based healthcare“3,4 oder „Über-, Unter- und Fehlversorgung“5 sind hier Stichpunkte – ergibt sich die Frage nach der wissenschaft- lichen Evidenz, auf deren Grundlage die erforderlichen Anpassungen erfolgen könnten.

Die Methode der Evidenzbasierten Medizin (EbM) geht davon aus, dass die Einschätzung der Relevanz und damit der Richtigkeit einer medizinischen Maßnahme nur auf Ebene des Individuums bzw. auf Patientinnen- und Pa- tientenseite im Rahmen der vertrauensvollen Patient-Arzt-Beziehung zu treffen ist. Denn EbM erfolgt im Zusammenspiel dreier Kompo- nenten: 1. Der individuellen Patientinnen- und Patientenpräferenz, 2. der ärztlichen Erfahrung (interne Evidenz) und 3. der systematischen Berücksichtigung der besten vorhandenen klinisch-empirischen Forschungsergebnisse (externe Evidenz).6

Gerade in Anerkennung der Patient-Arzt-Be- ziehung als zentralen Ort der medizinischen Entscheidungsfindung ist es notwendig, dass externe Evidenz vorliegt, die patientenrelevan- te Parameter erfasst und im Versorgungsalltag tatsächlich unterstützt. Doch leider fehlt diese Evidenz häufig.7

In Deutschland konzentriert sich Forschung traditionell vor allem auf Innovationen, Tech- nologie und biomedizinische Grundlagenfor- schung. Im Fokus steht eher die Platzierung neuer Produkte im Gesundheitsmarkt, statt die Ermittlung des Nutzens der geübten Ver- sorgungspraxis sowie des Nutzens von Innova- tionen unter Alltagsbedingungen. Weiterhin findet Forschung eher im Setting der Univer- sitätsklinik statt – doch nur ein kleiner Teil der Krankheitsfälle kann hier erfasst werden, da der Großteil der medizinischen Versorgung ambulant erfolgt. Fragen zu Langzeitverläufen, Multimorbidität, Versorgungsprozessen, All- tagserkrankungen, zum Erkennen abwendbar gefährlicher Verläufe bzw. zur Abgrenzung selbstheilender Verläufe, zu seltenen Erkran- kungen, zur vergleichenden Nutzenbewertung zugelassener Therapien, zu nicht-medikamen- tösen Behandlungsansätzen und zum Nutzen präventiver Maßnahmen bleiben regelhaft un- beantwortet.

Mit der Initiative Deutscher Forschungspraxennetze – DESAM-ForNet wird eine wichtige Ergänzung der bisherigen Forschungslandschaft geschaffen. Als Zusammenschluss von sechs Forschungs- praxennetzen mit einer Koordinierungsstelle, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), ist die Struktur 2020 an den Start gegangen. Mittlerweile sind 32 von 40 allgemeinmedizinischen Universitätsstandorten in der Initiative DESAM-ForNet organisiert. Die hausärztlichen Forschungspraxennetze verbinden Universitätsmedizin und hausärztliche Praxis. Die zu beforschenden Themen und die Forschungsmethoden werden dabei ganz wesentlich von Ärzt:innen und MFA aus den Forschungspraxen sowie von Patient:innen und Bürger:innen bestimmt, um Relevanz und Machbarkeit der Forschung sicherzustellen. 1360 hausärztliche Forschungspraxen sind bereits dabei, bis 2025 sollen es 1732 sein.

Ziel ist Generierung einer soliden Wissensgrundlage zur Wirksamkeit präventiver, diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen auf allen Ebenen der Versorgung. Auch ländliche bzw. unterver- sorgte Räume und vulnerable Gruppen sollen hiermit erreicht werden. Hierzu soll die Infrastruktur perspektivisch die universitätsstandort- und sektorenübergreifende Durchführung klinischer und klinisch-epidemiologischer Studien ermöglichen.

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Autorin

Leonor Heinz

Dr. med. Leonor Heinz ist Fachärztin für Allgemeinmedizin und leitet seit 2020 die Koordinierungsstelle für die Initiative Deutscher Forschungspraxennetze – DESAM-ForNet.

Transparenzerklärung
Schatzmeisterin des Hausärztinnen- und Hausärzteverbands Berlin und Brandenburg e.V., Delegierte in der Berliner Ärztekammer, Mitglied bei DEGAM, EBM-Netzwerk und MEZIS, kooptiertes Vorstandsmitglied im Bundesverband Managed Care (BMC), Ehemann investiert in Startups mit z.T. medizinischem Kontext (https://www.nuumi.de/, https://jymmin.com/, https://yas.life)

Fußnote

  • (2) Sachverständigenrat Gesundheit & Pflege, Gutachten vom 25. April 2024: „Fachkräfte im Gesundheitswesen. Nachhaltiger Einsatz einer knappen Ressource“, DOI 10.4126/FRL01-006473488
  • (3) Deerberg-Wittram J, Kirchberger V, Rüter F: Das Value-Based Health Care Buch. MWV Berlin 2023
  • (4) Bergen et al.: Gesundheitsverordung am Outcome ausrichten. Monitor Versorgungsforschung 01/24, S. 44-46
  • (5) DEGAM-Leitlinie „Schutz vor Über- und Unterversorgung – gemeinsam entscheiden. S2e-Leitlinie – Living Guideline, publiziert 02/2024, AWMF-Register-Nr. 053-045LG
  • (6) Kühlein T, Egidi G, Scherer M: Schutz vor Über- und Unterversorgung – Einführung in die DEGAM-Leitlinie. ZFA 3/2023, 139-44
  • (7) Greenhalgh T, Fisman D, Cane DJ, et al.: Adapt or die: how the pandemic made the shift from EBM to EBM+ more urgent. BMJ Evidence-Based Medicine 2022; 27:253-260