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Die Spritze gegen das Vergessen

  • GÜNTHER EGIDI

Die Demenz vom Alzheimertyp breitet sich immer weiter aus. Droht uns gar eine Demenz-Epidemie? Dies legt zumindest die Lektüre der Laienpresse nahe. Wirklich??

Einige epidemiologische Studien in westlichen Ländern deuten dagegen darauf hin, dass diese Behauptung nicht stimmt und möglicherweise von sekundären Interessen geleitet sein könnte (siehe unten).

In der britischen Studie Ageing I und II(1) wurde berichtet, dass die Lebenserwartung 65-Jähriger in den drei englischen Regionen Cambridgeshire, Newcastle und Nottingham von 1991 bis 2011 um 4,5 Jahre bei Männern bzw. 3,6 Jahre bei Frauen stieg – begleitet von einem Zuwachs an Jahren ohne jede kognitive Beeinträchtigung von 4,2 Jahren bei Männern bzw. 4,4 Jahren bei Frauen.

In der Epidemiologie wird dieses Phänomen „compression of morbidity“ genannt: die Jahre ohne Krankheit nehmen zu – die Jahre mit Krankheit bzw. in diesem Fall mit mentaler Beeinträchtigung schieben sich gewissermaßen in ein höheres Lebensalter.

Eine vergleichbare Untersuchung aus den USA(2) zeigte einen Rückgang der Prävalenz einer Demenz bei über 65-Jährigen von 11,6% im Jahr 2000 auf 8,8% in 2012.

Eine zusammenfassende Studie des Alzheimer-Konsortiums aus sieben populationsbasierten Kohorten aus Europa und den USA(3) ergab eine Inzidenzrate für die Entwicklung einer Demenz von 4 pro 1.000 Personenjahre für 65-69-Jährige und von 65 pro 1.000 Personenjahre bei den 85-89-Jährigen. Zudem wurde ein Rückgang der Inzidenzrate um relativ 13% alle 10 Jahre (nicht Lebensjahre) dokumentiert. Es ist allerdings zu vermuten, dass trotz rückläufiger Inzidenzrate die absolute Zahl demenzkranker Menschen allein wegen der Alterung der Gesellschaft zunehmen wird.

Ist also alles gut? Sicherlich nicht. Häufig stellt eine demenzielle Erkrankung auch die Angehörigen bzw. das Lebensumfeld vor große Probleme. Für die Betroffenen kann eine Demenz mit Verunsicherung, Ängsten, Selbstgefährdung und erlebtem Autonomieverlust verbunden sein, manchmal auch mit einer manifesten Depression.

Versuche, eine Demenz vorherzusagen, resultierten in der Beschreibung einer neuropsychologisch operationalisierten Prodromalphase („mild cognitive impairment“) und dem frühen Nachweis pathologischer Eiweiße (Amyloid, Tau-Proteine) im Liquor – beides allerdings mit (klinisch irrelevant) niedrigen positiven prädiktiven Werten.

Es liegt der Gedanke nahe, eine solche präklinische Phase nicht nur früh zu erkennen, sondern auch zu behandeln, um die Entwicklung der Demenz zu verzögern bzw. zu verhindern.

Kürzlich hatte ich Kontakt mit einem Projekt der Münchener Psychiatrie, um „Gehirn-Check-Ups“ in der hausärztlichen Versorgung zu etablieren. Von einer Gruppe neurowissenschaftlicher Demenzforscher:innen wird darauf hingewiesen, dass der Übergang von einem präklinischen Stadium zu einer manifesten Demenz selten sei,(4) aber die Demenzprädiktion durch die Bestimmung von Amyloid- und Tau-Proteinen erfolgversprechender sei. Die Mitglieder der Gruppe schlagen dementsprechend vor, das Stadium mild cognitive impairment mit der Bestimmung von Tau-Proteinen und Amyloid zu kombinieren(5) und bereits bei auffälligem Biomarkerprofil und leichten kognitiven Normabweichungen ohne alltagsrelevante klinische Symptome (!) von einer Alzheimer-Demenz zu sprechen.

Es fragt sich dann nur: Wann würde man Biomarker bestimmen, wenn nicht beim Auftreten relevanter neuropsychologischer Symptome, die an eine Demenz denken lassen? Und wer würde das machen, wie würde das finanziert werden? Wer würde die in der S3-Leitlinie Demenzen vorgeschlagenen nichtmedikamentösen Therapien für die dann rapide ansteigende Zahl der mit „Alzheimer-Demenz“ gelabelten Menschen durchführen?

Die DEGAM hat in der S3-Leitlinie Demenzen(6) dieses deutliche Sondervotum eingelegt: „Die Diagnose einer Alzheimer-Krankheit kann nicht bereits bei typischer Symptomausprägung und eindeutigem Biomarker-Hinweis (Tau- und beta-Amyloid-Pathologie) für das Vorliegen einer Alzheimer-Pathologie gestellt werden – auch nicht im Stadium der leichten kognitiven Störung.“ Die große Frage stellt sich: Handelt es sich bei dem Nachweis dieser Biomarker um einen behandelbaren Zustand, der eine Früherkennung rechtfertigt – oder haben wir es hier mit einer Art von Krankheitsvermarktung, einem „disease mongering“ zu tun wie bei „Prähypertonie“, „Prädiabetes“ etc.?

Bereits bei der manifesten Alzheimer-Demenz halten sich die Effekte einer medikamentösen Behandlung sehr in Grenzen:

  • Donepezil verbessert die Kognition, gemessen mit der Alzheimer‘s Disease Assessment Scale-Cognitive („ADAS-Cog“) um durchschnittlich 2,67 Punkte auf einer Skala von 0-70.(7)
  • Memantin verbessert die Kognition bei leichter Demenz um 0,21 und bei mäßiger Demenz um 2,15 Punkte auf der ADAS- Cog-Skala.(8)

Nun schließt ein mäßiges Therapie-Ergebnis im statistischen Mittel nicht aus, dass einzelne Personen doch relevant profitieren. Darum hat der Gemeinsame Bundesausschuss in der Arzneimittelrichtlinie(9) festgelegt, dass Antidementiva nur zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden dürfen, wenn ein maximal 24-wöchiger Therapie-Ver- such keine Verschlechterung der Kognition im Test gezeigt hat.

Ich finde diese Lösung gut – und kündige auch immer vor Beginn einer Therapie mit Donepezil an, einen Re-Test in einem knappen halben Jahr durchzuführen und die Therapie zu Lasten der GKV fortzusetzen, wenn sich das Ergebnis beim Demtect-Test(10) nicht verschlechtert.

Ganz wesentlich für die Entscheidung für oder gegen eine Therapie sind natürlich das subjektive Leiden der Betroffenen unter ihrem kognitiven Verfall und ein klarer Therapie-Wunsch. Nicht selten kommt es beim Absetzen der Medikation zu einer kognitiven Verschlechterung – aber die Evidenz in einem entsprechenden Cochrane-Review(11) ist von sehr geringer Vertrauenswürdigkeit. Außerdem: Cholinesterasehemmer sind keine inerten Substanzen, sondern bergen das Risiko unerwünschter Wirkungen. Die Hemmung der Acetylcholinesterase kann zu einer relevanten Bradykardie führen, Störungen von Schlaf und Appetit verursachen sowie die Depressivität erhöhen.(12)

Nun gibt es aber etwas ganz Neues: Monoklonale Antikörper werden vermehrt beforscht, bereits bei mildem kognitivem Defizit. Die untersuchten Substanzen sind in der Lage, Amyloid im Gehirn zu neutralisieren. Es wird angenommen, dass durch die Neutralisierung der Amyloid-Ablagerungen dem kognitiven Abbau begegnet werden könnte. Bislang ist keine von ihnen in der EU – und damit in Deutschland – zugelassen. Zumindest für Lecanemab wird aber erwartet, dass nach der US-amerikanischen FDA auch die europäische Zulassungsbehörde EMA grünes Licht geben wird. Die neuen Substanzen tauchen auch bereits im Deutschen Ärzteblatt im Zusammenhang mit Berichten über mögliche Bluttests mit bestimmten Tau-Proteinen auf.(13) Das Ergebnis würde dann eine Entscheidung beispielsweise über eine Behandlung mit Lecanemab nahelegen.

Zu den neuen Medikamenten hat jetzt ein Team um den renommierten US-amerikanischen, allgemeinmedizinischen Forscher Mark Ebell einen systematischen Review mit Metaanalyse zur Wirksamkeit monoklonaler Antikörper bei Alzheimer-Demenz in den Annals of Family Medicine vorgelegt.(14)

In ihre Metaanalyse schlossen sie 19 randomisierte Studien mit 23.202 Teilnehmenden mit mild cognitive impairment oder leichter bis mäßiger Alzheimer-Demenz ein. Sie fanden zwar einen Nutzen für die neuen Antikörper, der allerdings mehr als bescheiden ausfiel: Eine Verbesserung um gerade einmal 0,07 Punkte in den gekürzten Alzheimer Disease Assessment-Scales (ADAS-Cog-Skalen von 0 bis maximal 11-14 Punkten, wobei niedrigere Werte einer besseren kognitiven Funktion entsprechen). Die kognitive Funktion, geschätzt auf der Clinical Dementia Rating-Sum of Boxes Scale (0-18 Punkte) verbesserte sich unter Antikörper-Therapie um 0,18 Punkte. Bei keinem Endpunkt wurde ein Nutzen gefunden, der die Schwelle einer minimalen klinisch bedeutsamen Differenz (MCID) überschritten hätte.

Monoklonale Antikörper gegen Vorformen oder eine bereits eingetretene Demenz nützen zwar nachweislich – aber der Nutzen ist nicht relevant.

Nach der intravenösen Anwendung monoklonaler Antikörper kam es zu einem zehnfachen Anstieg von Hirnödemen (number needed to harm 9) und zu einer relativen Zunahme von Hirnblutungen um 74% (number needed to harm 13).

Auch wenn monoklonale Amyloid-Antikörper vermutlich von der EMA für den europäischen Markt zugelassen werden sollten: Solange keine besseren Studienergebnisse vorliegen, sollten wir unsere Patient:innen mit leichten kognitiven Einschränkungen sowie manifester Alzheimer-Demenz davor schützen, mit einer solchen Therapie potenziell gefährdet zu werden. Vermutlich werden sich memory clinics und Demenz-Ambulanzen bald nach der Zulassung auf diesen neuen Markt stürzen.

Eine Spritze Lecanemab (Lequembi®) kostet in den USA über 1.000 € …

Ich danke Erika Baum, Heike Diederichs, Ildikó Gágyor, Hanna Kaduszkiewicz, Michael Pentzek und Horst-Christian Vollmar für das kritische Gegenlesen dieses Beitrages und ihre konstruk- tiven Verbesserungs-Vorschläge. Alle meine Tex- te werden auch immer von Michael M. Kochen durchgesehen und ggf. korrigiert.

Autor

Günther Egidi

Dr. med. Günther Egidi ist nach 15 Jahren in der Klinik (Gynäkologie und Geburtshilfe, Chirurgie, Onkologie, Nephrologie und Allgemeine Innere Medizin) seit 1999 in einer hausärztlichen Gemeinschaftspraxis in Bremen niedergelassen. Er ist in der Leitlinienarbeit aktiv (kardiovaskuläre Prävention, Diabetes, Schutz vor Über- und Unterversorgung u.v.m.), in der hausärztlichen Fortbildung tätig und seit vielen Jahren MEZIS-Mitglied.

Transparenzerklärung: Mitglied im Präsidium der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), MEZIS-Mitglied, Erhalt von Honoraren für Vorträge und Beratungen (für Institut für hausärztliche Fortbildung IhF, IQWiG, AkdÄ, AWMF), Besitz von Firmenanteilen

Fußnote