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Foto: VLAD ANTONOV / Stock.adobe

Aufgeschnappt – Alkoholgenuss ohne Rausch

  • RALF BICKEBÖLLER

Nebenbei hörte ich am 18. Mai dieses Jahres ab 8:39 Uhr im Deutschlandfunk von einem aus Molkenprotein und Eisen- und Goldpartikeln bestehenden Gel, das die Wirkung von Alkohol reduzieren könne. Das Gel baue den im Magen-Darm-Trakt befindlichen Alkohol vor dem Übertritt in das Blut zu unschädlicher Essigsäure ab. Im Blut befindlicher Alkohol gelange in die Leber, wo er zu Acetaldehyd und dann weiter zu Essigsäure abgebaut werde.

Ich lernte: „Das Gefährliche an Alkoholmissbrauch ist ja das Acetaldehyd. Das ist der giftige Bestandteil und mit unserer Technologie existiert dieser Bestandteil nicht“, so Raffaele Mezzenga von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich im Radio.

Weiter die Sprecherin: Das Gel könnte „Menschen nutzen, die in ihrer Freizeit Alkohol konsumieren wollen, etwa zu einem Essen eingeladen sind oder auf eine Party. Wer vorher das Gel einnimmt, der könnte ein paar mehr Gläser trinken als gewöhnlich“, aber der Hauptnutzen sei ein anderer: „Es gibt so viele Menschen, die wegen Alkohol unter Krankheiten leiden, die alkoholsüchtig sind, diese Menschen wollen wir erreichen, ihnen dabei helfen, vom Alkohol wegzukommen, um ihnen die Organe zu erhalten, die Leber, das Hirn, das Herz, alles eigentlich.“ Von den vielen Menschen, die sich aus aller Welt bei Raffaele Mezzenga freiwillig zu klinischen Studien melden, sei ein großer Anteil alkoholabhängig. In etwa eineinhalb Jahren könne das Gel für die Anwendung beim Menschen zugelassen sein. 1

Dank Internet fand ich die am 13. Mai dieses Jahres erschienene Originalarbeit schnell. Die beteiligten Wissenschaftler:innen zeigten an einem Mausmodell für chronische und übermäßige Ethanolfütterung, dass die mit dem oral verabreichten Gel behandelten Mäuse einen signifikant geringeren Gewichtsverlust, weniger Leberschäden und einen besser regulierten Lipidstoffwechsel aufwiesen als die der Kontrolle. Daraus leiteten die Forschenden ab, dass ein oral zu verabreichendes Gegenmittel bei Alkoholintoxikation auf der Basis eines biomimetischen Nanozyms realisierbar sei. 2

In Zukunft könne das vor/während des Alkoholkonsums eingenommene Gel den steigenden Alkoholspiegel im Blut und die damit verbundenen schädigenden Wirkungen infolge der Acetaldehyd-Bildung verhindern. Weiter ist in der Pressemitteilung der ETH Zürich zu lesen, dass nun nicht wie bisher nur Symptome des schädlichen Alkoholkonsums zu bekämpfen seien, sondern auch seine Ursachen. „Es ist gesünder, gar keinen Alkohol zu trinken“, klärt Professor Mezzenga auf und fährt fort: „Das Gel könnte aber vor allem für Menschen interessant sein, die nicht ganz auf den Genuss verzichten möchten, aber ihren Körper nicht belasten wollen und nicht an der Wirkung des Alkohols interessiert sind“, oder die gesundheitsschädigende und/oder berauschende Wirkung des Alkohols reduzieren möchten, wie der Autor der Pressemitteilung vorschlägt. Das Gel helfe nicht, den Alkoholkonsum generell zu reduzieren. 3

Schon zwei Tage nach Erscheinen der Originalpublikation titelte die Stuttgarter Zeitung, um nur ein Beispiel zu nennen: „Ausgiebig feiern und picheln – ohne Kater? (…) Eine mögliche Lösung für Genießer, aber nicht für Säufer.“ Wer den Geschmack von Bier oder Wein schätze, der könne künftig ohne Folgen genießen. Doch solle das Gel nicht zur Steigerung des generellen Alkoholkonsums genutzt werden, mahnt die Autorin zur Vorsicht. Im Gegenteil, das Gel könne helfen, die Alkoholsucht einzudämmen und damit verbundene Todesfälle zu minimieren. 4 Für den Autor des in der Apotheken Umschau erschienenen Artikels könnte das Gel das Ende des Alkoholrausches bedeuten. 5

Die Originalarbeit stellte die Realisierbarkeit eines oral zu verabreichenden Gegenmittels bei Alkoholintoxikation dar, 2 ein Hinweis auf den eventuellen klinischen Nutzen des Gels. In Deutschland waren im Jahr 2021 69.300 Krankenhausbehandlungen wegen akuter Alkoholvergiftung zu verzeichnen. 6 Die akute Alkoholintoxikation ist ein starker Risikofaktor für zum Tode führende Gesundheitsprobleme. Die Kultur des Rauschtrinkens hat die Sterblichkeit in vielen europäischen Ländern steigen lassen. Die alkoholbezogene Mortalität ist in den meisten europäischen Ländern in Bevölkerungsgruppen mit niedrigem sozioökonomischem Status am höchsten. 7

In Deutschland konsumieren Bevölkerungsgruppen mit hohem Bildungsstatus häufiger und mehr Alkohol, insbesondere ist riskanter Alkoholkonsum bei Personen mit hoher Bildung im Vergleich zu Personen mit niedriger Bildung deutlich ausgeprägter. Haushalte mit hohem und niedrigem Einkommen wenden im Vergleich zu denen mittlerer Einkommen den größten Anteil ihrer Lebens- und Genussmittelausgaben für Alkohol auf. 8

Vor diesem Hintergrund ist es denkbar, dass das Gel in Deutschland eine Zulassung als Medizinprodukt erhalten könnte, um stationär zu behandelnde Menschen mit akuter Alkoholintoxikation zu helfen. Als Mittel zur Behandlung der Alkoholsucht oder zur Reduktion des Alkoholkonsums scheint der Wirkmechanismus des Gels nicht geeignet. Zudem ist nach meinem Dafürhalten die Annahme, dass Personen in interesselosem Wohlgefallen alkoholische Getränke konsumieren, ohne diesen Genuss an einen Zweck (hier die Rauschwirkung des Alkohols) zu binden, naiv – wenn auch wahrscheinlich dem Selbstbild einer Trinkerin oder eines Trinkers gehobener Bildungs- und/oder Einkommensschicht schmeichelnd. Über den möglichen Preis des verschreibungspflichtigen Medizinprodukts mit enger medizinischer Indikation bei angenommenen 70.000 stationären Anwendungen im Jahr kann nur spekuliert werden. Eine Anwendung außerhalb der Indikation mache einen Arztbesuch zur Verschreibung des Lifestyle-Produkts notwendig, das dann von der Selbstzahler:in oder Privatpatient:in in der Apotheke zu erwerben wäre. Das Konzept unterliefe die Anstrengungen zur strukturellen Prävention der Folgen des Alkoholkonsums, verschärfe es doch die sozialen Auswirkungen des Alkoholkonsums und unterstütze die Marktinteressen der wirtschaftlichen Akteur:innen 9 einschließlich der verschreibenden Ärzt:innen und abgebenden Apotheker:innen – nicht zu vergessen die Daseinsinteressen einer NGO wie MEZIS.

Autor

Ralf Bickeböller

Prof. Dr. med. Ralf Bickeböller ist Arzt i. R. und Sozialethiker. Er ist MEZIS-Beiratsmitglied.

Transparenzerklärung:
MEZIS-Beiratsmitglied

Fußnote