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Die Pharma-Lüge

Wie Arzneimittelkonzerne Ärzte irreführen und Patienten schädigen | Ben Goldacre

Die Buchrezension ist in der Zeitschrift kinder-und jugendarzt erschienen. Der kinder-und jugendarzt erteilte uns die Abdruckgenehmigung für die Buchrezension.

Wie schafft man es, dass eine Münze auf beiden Seiten einen Kopf hat? Man wirft sie, zählt aus, – und unterschlägt die Male, bei denen die Münze die Zahl zeigt. Am Ende hat man dann den Beweis: Die Münze muss auf beiden Seiten einen Kopf haben. So geschieht es mit Studien über die Wirksamkeit von Medikamenten. Negative Studien werden viel seltener veröffentlicht als positive, viele Studien werden durch Surrogat-Endpunkte, Verschieben der Endpunkte und Analyse von Untergruppen manipuliert, und nicht alle angemeldeten Studien werden veröffentlicht. All dies ist seit vielen Jahrzehnten bekannt, aber die Strategien, die das verhindern, greifen nicht oder werden systematisch verwässert.

So wissen wir Ärzte eigentlich gar nichts Genaues über Wirkungen und Nebenwirkungen der von uns verschriebenen Medikamente, weil die Pharmaindustrie unter Mitwirkung unserer wichtigsten Meinungsführer Daten zurückhält und trotz Verurteilung zu hohen Strafen eigene Daten und Studien nicht offenlegt – es sei denn, sie werden von Juristen dazu gezwungen. Und dann hilft immer noch ein außergerichtlicher Vergleich.

Ben Goldacre zeigt dies in seiner Analyse, gut belegt durch fast 360, meist frei zugänglichen Literaturquellen, in aller Deutlichkeit gut verständlich, spannend und unterhaltsam auf. Die deutsche Übersetzung von „Bad Pharma“ des britischen Arztes und Bestsellerautors Ben Goldacre wird von einem Vorwort Peter T. Sawickis eingeleitet, der 2004 – 2010 Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) war und dessen Arbeitsvertrag nicht verlängert wurde. Die Ergebnisse seines Institutes wurden als volkswirtschaftlich nicht hinnehmbar bemängelt, da es sich nicht um die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen pharmazeutischen Unternehmen bemühe. Er folgert, dass wir eine bessere pharmazeutische Industrie brauchen, bessere Zulassungsbehörden und gesetzliche Regelungen.

Was wir aber vor allem brauchen, sind bessere Ärzte, die mit Zahlen richtig umgehen, sich nicht nur gegen etwaige Unterlassungsvorwürfe im Sinne einer Defensivmedizin schützen wollen und vor allem Interessenskonflikte nicht nur bei allen anderen, sondern vor allem auch bei sich selber erkennen und mit ihnen konstruktiv im Sinne des Patientenwohles umgehen lernen.

„Goldacre liefert keine Verschwörungstheorien, sondern Kapitel für Kapitel anspruchsvolle Beweisführung“ urteilte „Der Spiegel“ über die englische Originalausgabe, und die Financial Times konstatierte: „Goldacres Analyse der Unzulänglichkeiten klinischer Studien ist niederschmetternd. Jeder, der sich für das Pharmageschäft interessiert, sollte das Buch lesen“. Letztlich ist das Buch, liest man zwischen den Zeilen, ein ungewollter Appell für „Leben ohne Drogen“, wenn dies auch der Autor nicht beabsichtigt.

Stephan Heinrich Nolte
Interessenkonflikte: Dr. med. Stephan Heinrich Nolte ist niedergelassener Vertragsarzt und lebt wie alle VertragsärztInnen davon, dass die PatientInnen jedes Quartal wiederkommen und ihr Kärtchen bringen.

Dr. Ben Goldacre, Jahrgang 1974, ist Arzt und Medizinjournalist. Er studierte in Oxford und in London. Seine Kolumne »Bad Science« (siehe auch Goldacres Blog www.badscience.net) im Guardian gilt als Kult.

Titel der Originalausgabe: Bad Pharma | Aus dem Englischen von Anne Emmert und Karin Miedler
Kiepenheuer und Witsch 2013; 19,99 EUR, ISBN 978-3-462-04577-2