Skip to main content

Stellungnahme MEZIS, Leitlinienwatch, Transparency Deutschland: Deutsche medizinische Fachgesellschaften verharmlosen Interessenkonflikte

Deutsche medizinische Fachgesellschaften verharmlosen Interessenkonflikte

Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) hat innerhalb eines Vierteljahres zwei Stellungnahmen zur Zusammenarbeit mit der Arzneimittel-industrie abgegeben1,2. In beiden werden die gängigen Kooperationsformen von Mediziner*innen mit der Industrie quasi als natürliche Symbiose dargestellt. Es wird verschwiegen, dass sich auch Nachteile für Patient*innen und Versicherte aus der finanziellen Verflechtung von Firmen, Ärzt*innen und Fachgesellschaften ergeben können. Damit wird verschleiert, in welche Abhängigkeiten und Interessenkonflikte die Beteiligten geraten können.

Auffällig ist, dass in beiden Stellungnahmen die bisherige AWMF-Position verwässert wird: Es galt, dass alle Arten von Interessenkonflikten „erkannt, selbst und fremd bewertet“ und „deren Einflüsse auf Entscheidungen“ reguliert werden müssen3.

MEZIS, Leitlinienwatch und Transparency Deutschland befürchten, dass die deutschen medizinischen Fachgesellschaften langfristig Ansehen und Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen. Sie ignorieren den internationalen Trend, wissenschaftliche Unabhängigkeit gegen nachgewiesene Beeinflussungsversuche der pharmazeutischen Industrie zu verteidigen. Vor allem zeigen sie kein Problembewusstsein dafür, wie weit schon jetzt viele dieser Fachgesellschaften abhängig von Geldern der Industrie sind.

Im Interesse der Patient*innen erwarten die unterzeichnenden Organisationen deshalb von den medizinischen Fachgesellschaften und der AWMF, dass

  • neben allgemein akzeptierten gemeinsamen Interessen von Medizin und Industrie gleichwertig gegensätzliche Interessen und mögliche Risiken benannt werden. Die Ärzteschaft ist für das umfangreiche Beeinflussungs-Repertoire der Pharma-Konzerne zu sensibilisieren.
  • sämtliche Interessen und daraus mögliche Interessenkonflikte der beteiligten Mediziner*innen in den entsprechenden Publikationen veröffentlicht und vor allem „selbst und fremd bewertet“3
  • Sachverständige mit Interessenkonflikten grundsätzlich von Leitliniengremien ausgeschlossen werden. Im Ausnahmefall ist zu begründen, weshalb nicht auf Autor*innen mit Industriekontakten verzichtet werden konnte
  • gezielt darauf hingearbeitet wird, Kongresse und Fortbildungsveranstaltungen ohne die finanzielle Unterstützung der Industrie durchzuführen.
  • Stände der pharmazeutischen Industrie bei Kongressen auf das für die Informationsvermittlung sinnvolle Maß begrenzt werden. Überdimensionierte Marketing-Auftritte führen dazu, dass weniger finanzkräftige, aber dennoch wichtige Anbieter*innen und Verbände nur am Rande wahrgenommen werden.
  • auf eine ärztliche Fortbildung durch Herstellerfirmen („Industriesymposien“) völlig verzichtet wird.

Die Erfahrung zeigt, dass etablierte Institutionen sich schwertun, bestehende materielle Abhängigkeiten einzugestehen. Deshalb regen wir eine öffentliche Debatte an. Freiwillige Verhaltensvorschriften reichen erfahrungsgemäß nicht aus. Stattdessen sind gesetzliche Regelungen erforderlich. Vorbild könnte der Physician Payments Sunshine Act in den USA sein. Danach muss die Industrie die Geldflüsse an alle Akteur*innen im Gesundheitswesen offenlegen.

_______________________________________

Zum Hintergrund

Zusammenarbeit bei der Produktentwicklung und Forschung

Die Pharmaindustrie braucht die Kooperation mit Ärzt*innen, um neue Behandlungsverfahren zu entwickeln und diese in Studien zu überprüfen. Die Tätigkeit der beteiligten Ärzt*innen und ihrer Kliniken wird üblicherweise als Auftragsforschung finanziell honoriert. Unproblematisch ist die Kooperation bei klinischen Studien jedoch nicht: Denn nach wie vor entwerfen die Firmen selbst die Studienpläne für ihre Produkte, verantworten die statistische Auswertung und den Publikations-prozess und können dadurch die Ergebnisse und deren Kommunikation beeinflussen. Die beteiligten Ärzt*innen haben dagegen auf das Studiendesign in aller Regel keinen Einfluss. Wie alle Wissen-schaftler*innen neigen Studienärzt*innen dazu, sich mit ihrem Projekt zu identifizieren, das in diesem Fall ein kommerzielles Produkt ist. Hier hilft das Trennungsprinzip: Wer an Therapiestudien mitgewirkt hat, sollte nicht später an der Medikamentenbewertung beteiligt sein.

Beraterverträge

Eine wissenschaftlich orientierte Beratung durch spezialisierte Ärzt*innen ist für die Industrie oft unverzichtbar. Die Industrie nutzt Beraterverträge jedoch oft, um meinungsbildende Ärzt*innen („key opinion leaders“ KOL) zu binden und auf die eigenen Interessen zu verpflichten. Bisweilen sind fast alle prominenten Vertreter*innen medizinischer Fachgesellschaften durch Beraterverträge mit Arzneimittelfirmen liiert.4 Die Spitzenreiter unter den Berater*innen können auf diese Weise ihr Einkommen erheblich aufstocken. Dabei geht es der Industrie darum, das Produkt in den Köpfen der ärztlichen Meinungsführer*innen zu verankern, die dann über Vorträge, Artikel und Mitarbeit in Leitliniengremien als Multiplikatoren wirken.

Für wissenschaftliche medizinische Fachgesellschaften ist diese Verflechtung ihrer Führungsschicht mit der Industrie riskant, gehört es doch zu ihren Kernaufgaben, Ärzt*innen, Patient*innen und die Politik fachlich zu beraten. Dafür braucht es neben der inhaltlichen Kompetenz auch die Unabhängigkeit von kommerziellen Interessen. Wer Geld von einem Arzneimittelhersteller annimmt, bewertet dessen Produkte meist positiver als unabhängige Wissenschaftler*innen.5 Die reine Erklärung der Interessenkonflikte, wie im AWMF-Positionspapier angesprochen, reicht nicht aus, das öffentliche Vertrauen in die Expert*innen der Fachgesellschaften herzustellen.

Leitlinien

Die Fachgesellschaften sind Herausgeber medizinischer Behandlungsleitlinien, die Empfehlungen zur Therapie zahlreicher Erkrankungen formulieren. Bei vielen AWMF-Leitlinien hat die Mehrzahl der Leitlinienautor*innen finanzielle Unterstützung von der Arzneimittelindustrie erhalten, oft von den Herstellern der zu bewertenden Produkte.6 Diesen Aspekt thematisiert das Positionspapier nicht. Würden etwa die Ständige Impfkommission STIKO oder die Stiftung Warentest, die ebenfalls im öffentlichen Auftrag Produkte bewerten, Industriekooperationen mit den Herstellern unterhalten und rechtfertigen, nähme ihre Reputation schweren Schaden. Immerhin hat die AWMF in den letzten Jahren eine Regulierung eingeführt, die Leitlinienautor*innen mit Interessenkonflikten bei Abstimmungen die Enthaltung nahelegt – ein positives Beispiel für einen aktiven Umgang mit Interessenkonflikten. Die Nicht-Beteiligung befangener Autor*innen an einer Leitlinie wäre jedoch der konsequentere Weg. Dazu hat TI-D bereits im Jahr 2016 eine Analyse und Stellungnahme verfasst.7

Fortbildungssponsoring

Im aktuellen Positionspapier der AWMF heißt es, dass Kongresse und Fortbildungsveranstaltungen ohne die finanzielle Unterstützung der Industrie nicht umsetzbar wären. Wir widersprechen: Die Weitergabe von Wissen ist im Informationszeitalter zu immer geringeren Kosten zu haben, wie es insbesondere die Coronazeit mit ihren Zoom- und Hybridkongressen gezeigt hat. Krankengymnast*innen, Psycholog*innen und Jurist*innen bilden sich seit jeher aus eigener Tasche fort. Fortbildungskosten sind zudem steuerlich absetzbar.

Aus Sicht der Arzneimittelindustrie dienen gesponserte Fortbildungsveranstaltungen dem Marketing: „Fortbildungsveranstaltungen für Ärzt*innen stellen für forschende Pharmaunternehmen eine enorm wichtige Maßnahme zur Umsatzsteigerung dar“ bekennt eine Managerin der Branche.8 Dagegen verlangt der Gesetzgeber: „Die Fortbildungsinhalte… müssen frei von wirtschaftlichen Interessen sein“ (SGB V, § 95d). Die AWMF verweist auf ein kürzlich erlassenes und umstrittenes Hamburger Urteil zum Fortbildungssponsoring, das Unternehmen von den Beschränkungen des SGB freisprechen möchte. Sie übernimmt damit die Sichtweise der Industrie, ohne die Konsequenzen einer kommerziell motivierten Informationsverzerrung für die Patientenversorgung zu reflektieren.

Industriesymposien als Geschäftsmodell medizinischer Fachgesellschaften

Gänzlich unerwähnt bleiben im AWMF-Papier die ureigenen Interessenkonflikte der medizinischen Fachgesellschaften, die insbesondere die Fachgebiete berühren, die vorwiegend mit Medikamenten behandeln. Auf deren Jahreskongressen wird die Therapie-Fortbildung oft weitgehend den Arzneimittelfirmen überlassen, die den Besucher*innen so genannte „Industriesymposien“ anbieten. Die Firmen verpflichten prominente Redner*innen (KOL), um das Krankheitsbild und dessen aktuelle Therapie darzustellen. Das Produkt des Sponsors spielt dabei immer eine zentrale Rolle und schneidet erwartungsgemäß besonders gut ab. Das wissenschaftliche Gewand der Vorträge ist dabei eher als Camouflage einzuordnen. Daher vergeben die Ärztekammern für solche Veranstaltungen auch keine Fortbildungspunkte.

Den Fachgesellschaften wird die Überlassung der Räumlichkeiten teuer vergütet, mit bis zu 40.000 € für zwei Stunden – bei Selbstkosten für Saal und Technik von maximal 4.000 €. Hier wird das Äquivalenzprinzip eklatant verletzt. Die Fachgesellschaft verkauft nicht den Saal, sondern den Zugang zu den ärztlichen Köpfen, die nirgendwo so konzentriert versammelt sind, wie beim Jahreskongress. Die aus den Industriesymposien resultierenden Überschüsse übersteigen bisweilen die jährlichen Mitgliedsbeiträge der Fachgesellschaften. Daher wundert es auch nicht, dass aus den Fachgesellschaften kaum Kritik an den Arzneimittelherstellern zu vernehmen ist. Anlass dafür gäbe es genug, angesichts von zahlreichen pseudo-innovativen Medikamenten, zunehmend absurden Arzneimittelpreisen und einer restriktiven Patentpolitik zulasten von Patient*innen in armen Ländern.

Industrieausstellung auf Kongressen

Eine weitere Einkommensquelle für medizinische Fachgesellschaften sind die Industrieausstellungen auf den Jahreskongressen. Dass es hier oft nicht um die Vermittlung wissenschaftlicher Informationen geht, zeigen die überdimensionierten Messebauten vieler Arzneimittelfirmen mit kostenloser Coffee-Lounge und Snackbar, Video-Großleinwänden und Gewinnspielen. Andere Angebote in diesen Markthallen sind dagegen durchaus sinnvoll, etwa Bücherstände, Infostände von Patienten- und Berufsverbänden sowie von Geräteherstellern, mit deren Produkten die teilnehmenden Ärzt*innen täglich arbeiten. Dass eine herkömmliche Industrieausstellung verzichtbar ist, zeigt die deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM) seit vielen Jahren.

Gemeinsame Plattform mit der Industrie?

Die AWMF kündigt in ihrem Dokument die Gründung einer Plattform zur Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Industrie an. Auf EU-Ebene existieren bereits verschiedene ähnliche Plattformen, jeweils großzügig von der europäischen Lobbyorganisation der pharmazeutischen Industrie (EFPIA) unterstützt, z.B. IMI, EU-PEARL und EHDEN.9

Die Ziele und Visionen dieser Lobbyorganisation stellen die Interessen der Industrie an erste Stelle. Die Industrie würde gerne eigene Studiendesigns implementieren, um schneller in die Vermarktung zu kommen. Die Fachgesellschaften müssen aber klar machen, wann dies im Patienteninteresse ist und wann nicht. Zu diesem Thema brauchen wir eine breite öffentliche Diskussion und Entscheidungen von demokratisch legitimierten Institutionen. Wir alle (auch die AWMF) sollten uns für öffentlich geförderte Arzneimittelforschung stark machen, die für eine bezahlbare und rationale Arzneimitteltherapie unverzichtbar sein wird.

Fazit

Interessenkonflikte, die unter der Wahrnehmungsschwelle bleiben, die kleingeredet werden und auf die nicht aktiv reagiert wird, können zur Korruption führen.10 Interessenkonflikte und Korruption betreffen nicht nur einzelne Menschen, sondern auch Organisationen wie die medizinischen Fachgesellschaften. Diese neigen ebenso wie Einzelpersonen dazu, ihre Interessen in wohlklingende Narrative zu verpacken und nicht alle Fakten auf den Tisch zu legen.11 Die medizinischen Fachgesellschaften, ähnlich wie andere Großorganisationen, werden sich nicht mit eigener Kraft aus ihren Verstrickungen lösen können. Vielmehr brauchen sie regulative Vorgaben und vor allem eine informierte öffentliche Debatte.

 

Kontakt

___________________________________

1    Die Kooperation Medizinischer Wissenschaften und Industrie, Präsidium der AWFM, November 2021
2    Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF e.V.) zur Qualitätssicherung wissenschaftlich basierter Fortbildungen und Transparenz möglicher Interessenkonflikte sowie Sicherung einer von Sponsoren unabhängigen Durchführung von Kongressen, Februar 2022
3    Empfehlungen der AWMF zum Umgang mit Interessenkonflikten bei Aktivitäten wissenschaftlicher medizinischer Fachgesellschaften – Fassung vom 10. November 2017, Ad-hoc-Kommission der AWMF
4    Peter Gøtzsche. What do thousands of doctors on industry payroll do? In: Deadly medicines and organized crime. Radcliffe Publishing, London 2013, 74-86.
5    Wang AT, McCoy CP, Murad MH, Montori VM. Association between industry affiliation and position on cardiovascular risk with rosiglitazone: cross sectional systematic review. BMJ. 2010; 340:c1344
6    www.leitlinienwatch.de
7    Normsetzung im Gesundheitswesen – Erarbeitung und Qualität von medizinischen Leitlinien. Transparency International-Deutschland 2016
8    Schwetzel J. Fortbildungsveranstaltungen für Ärzte. Marketinginstrument für Pharmaunternehmen. Diplomica, Hamburg 2010.
9    Building A Healthier Future For Europe, European Federation of Pharmaceutical Industries and Associations (EFPIA)
10 Lieb K, Klemperer D, Kölbel R, Ludwig WD. Interessenkonflikte, Korruption und Compliance im Gesundheitswesen. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin 2018.
11 Ashforth BE, Anand V. The normalization of corruption in organizations. Res Organ Behav 2003

2022