Skip to main content

Manifest für bezahlbare Medikamente und eine bedarfsgerechte Arzneimittelforschung

Überhöhte Arzneimittelpreise haben gravierende Auswirkungen auf den Zugang zu Medikamenten mit nachgewiesenem therapeutischem Fortschritt. War bisher der Zugang zu unentbehrlichen Medikamenten nur im globalen Süden ein Problem, ist dies zunehmend auch in reichen Ländern wie Deutschland der Fall, sowohl bei Infektionskrankheiten wie Hepatitis C als auch bei nicht-übertragbaren Krankheiten wie Krebs.

Die Ursachen der immer teurer werdenden medikamentösen Therapien wurden eingehend auf der Fachtagung am 1.-2.12.2016 beleuchtet, die Auswirkungen auf den Zugang zu diesen Arzneimitteln in Nord und Süd analysiert und Lösungsstrategien entwickelt.

Präambel

Öffentliche Erklärung von praktizierenden Ärztinnen und Ärzten, Gesundheitswissenschaftlerinnen und Gesundheitswissenschaftlern zum Preisanstieg bei neuen patentgeschützten Medikamenten und für eine stärker bedarfsorientierte Arzneimittelforschung und -entwicklung (F&E) 1.

Wir appellieren an die deutsche Politik, im Interesse von Patientinnen und Patienten, Krankenversicherungen und Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern für die Daseinsversorgung mit unentbehrlichen Arzneimitteln zu fairen Preisen einzutreten und privaten kommerziellen Interessen, die den gesundheitlichen Erfordernissen der Bevölkerung und den Gemeinwohlinteressen nicht entsprechen, entgegen zu wirken.

Hintergrund

Wir begrüßen grundsätzlich Innovation und neue Arzneimittel, um Krankheiten zu behandeln. Aber es dient niemandem, wenn die Pharmaindustrie Medikamente entwickelt, die nicht bedarfsorientiert sind oder die wir auf Dauer nicht bezahlen können. Wir beobachten mit Sorge, dass Preise für neue Medikamente in Deutschland und weltweit stark und unverhältnismäßig steigen. Dramatisch ist dies insbesondere für solche Medikamente, für die es keine Alternative gibt. Diese enorme Steigerung der gesamtgesellschaftlichen Ausgaben für Medikamente stellt jetzt eine reale Gefahr für das solidarisch finanzierte Gesundheitssystem in Deutschland dar und droht auch hierzulande wie bereits in anderen Ländern Europas den Zugang zu lebensnotwendigen Arzneimitteln einzuschränken.

Die Hochpreispolitik der Arzneimittelindustrie und ihr Geschäftsmodell ist wegen seiner mangelnden Orientierung am medizinischen Bedarf, seiner Innovationsschwäche, was echte Innovation angeht, und seiner Preispolitik inzwischen in die Kritik geraten wie nie zuvor. Weltweit fordern Expertinnen und Experten, Kommissionen der UN und angesehene medizinische Fachjournale, zahlreiche Organisationen der Zivilgesellschaft sowie nationale Regierungen konkrete Schritte gegen die Hochpreispolitik und eine an den Erfordernissen öffentlicher Gesundheit ausgerichtete F&E. Selbst bei der EU steht das Thema inzwischen auf der Agenda. Es bedarf dringend einer Reform des derzeitigen Systems der Forschung und Entwicklung und der Bereitstellung von Medikamenten, um zukünftig die Versorgung mit notwendigen Arzneimitteln zu bezahlbaren Preisen sicherstellen zu können. Aus diesem Grund schlagen wir folgende Maßnahmen für eine umfassende, am Patientenbedarf und nachhaltigen Preisen orientierte Arzneimittelpolitik vor.

Forderungen

Um zukünftig bezahlbare Medikamente sicherzustellen benötigt es:

1. Mehr Wettbewerb im stark von Patenten und Monopolen und geprägten Arzneimittelmarkt. Das gegenwärtige auf staatlich garantierten zeitlich-befristeten Monopolen beruhende System begünstigt hohe Medikamentenpreise, führt zu illegalen wettbewerbswidrigen Praktiken, Patentmissbrauch, sog. Evergreening von Patenten und zu falschen Anreizen in der F&E, die echte Innovation eher verhindern als fördern. Zudem haben neue Freihandels-und Investorenschutzabkommen große und überwiegend negative Folgen für die Gesundheit. Daher fordern wir

  • frühen Marktzugang für und die breite Anwendung von Generika,
  • eine stärkere Kontrolle und Sanktionierung illegaler wettbewerbswidriger Praktiken von Unternehmen,
  • strengere Kriterien für die Patentierung von Arzneimitteln,
  • die Preise/Erstattungsfähigkeit stärker an der Nutzenbewertung und den realen Kosten für F&E auszurichten,
  • öffentliche Generikaproduktion für alte, nicht unter Patentschutz stehende Arzneimittel, bei der es nur einen Hersteller gibt, der seine Monopolstellung missbraucht,
  • die bedarfsweise Anwendung von Zwangslizenzen im Interesse öffentlicher Gesundheit,
  • Schutz des Handlungsspielraumes nationaler Regierungen zugunsten der Erfordernisse öffentlicher Gesundheit in multilateralen und bilateralen (TRIPS plus) Handels- und Investorenschutzabkommen.

2. Transparente Preisgestaltung und Bündelung der Verhandlungsmacht

Die Marktmacht der Hersteller und die Intransparenz der Preisgestaltung ist ein weiterer Faktor, der hohe Arzneimittelpreise begünstigt. Die Preisunterschiede zwischen einzelnen EU-Ländern betragen bis zu 50 %. Die Preise werden oft verdeckt verhandelt und schwächen die Position der Käufer. Daher fordern wir

  • ein öffentliches Transparenzregister über die national und regional verhandelten Medikamentenpreise,
  • die Stärkung der Verhandlungsmacht durch – auch länderübergreifende – Plattformen für Preisverhandlungen/Einkauf und Austausch,
  • eine Neuverhandlung bei hochpreisigen neuen und alten Arzneimitteln.

3. Volle Transparenz der Kosten für Forschung und Entwicklung sowie der Ergebnisse klinischer Studien. Die Industrie begründet Ihre hohen Medikamentenpreise mit den hohen Kosten für F&E. Die Arzneimittelpreisgestaltung aber ist intransparent, irrational und hängt heute nicht oder kaum mit den Kosten für F&E und Herstellung zusammen.

Etwa die Hälfte der klinischen Studien wird nicht veröffentlicht, insbesondere dann, wenn sie negative Ergebnisse zeigen oder den Erwartungen des Sponsors nicht entsprechen. Ergebnisse insbesondere industriegesponserter Studien sind zudem oft verzerrt bzw. werden verzerrt dargestellt. Daher wird die positive Wirkung von Arzneimitteln oft über- und ihre Nebenwirkungen unterschätzt. Wir fordern daher

  • vollständige Offenlegung der privaten und öffentlichen Finanzierung für Arzneimittel-F&E, deren Rückverfolgung und öffentlichen Prüfung, damit die realen Kosten der F&E einschließlich öffentlicher Zuwendungen, Steuervergünstigungen und dem Anteil staatlich finanzierter Grundlagenforschung erkennbar sind und die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler nicht zweimal zahlen,
  • die umfassende verpflichtende Offenlegung aller Forschungsdaten einschließlich der Daten aus frühen Forschungsstadien und aller klinischer Studien, sowohl für neue als auch für alte Medikamente.

4. Investitionen in Forschung und Entwicklung, um Medikamentenpreise unabhängig vom Marktprofit zu gestalten. Das gegenwärtige Modell der F&E, das Hauptanreize über Patente und Marktexklusivität herstellt, hat hohe Arzneimittelpreise zur Folge. Es führt volkswirtschaftlich in eine Sackgasse, weil es die Gesundheitssysteme finanziell überfordert, Fehlanreize setzt und schlecht auf die Erfordernisse im Gesundheitswesen reagieren kann.

Ein weiter so wie bisher ist keine Lösung. Es bedarf daher dringend einer Neuausrichtung der F&E. Daher fordern wir

  • mehr öffentliche Mittel für die Arzneimittel-F&E, gekoppelt an Bedingungen, die sicherstellen, dass die Forschung zu geeigneten und bezahlbaren Arzneimitteln führt. Dazu gehören eine nicht-exklusive Lizenzpolitik, open access-Publikation, ein transparenter Datenaustausch und eine bedarfsorientierte Prioritätensetzung,
  • neue Modelle und Rahmenbedingungen für eine F&E, die sich nicht auf Patentschutz/Monopole und hohe Medikamentenpreise stützen. Damit sollen die Kosten für F&E von den Endpreisen für Medikamente entkoppelt werden („Delinkage“) wie Vorabfinanzierung, Produktentwicklungspartnerschaften (PDPs), Preisfonds u. a.,
  • öffentliche Gremien auf nationaler und internationaler Ebene, die Kriterien und Prioritäten erarbeiten, in welchen Bereichen der Arzneimittel-F&E vorrangig investiert werden sollte, verbunden mit Empfehlungen, die über die Vergabe zumindest der öffentlichen Mittel entscheiden.